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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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sage?« Er ließ sich leicht verunsichern, was fälschlicherweise als Wut wahrgenommen wurde. Die Leute glaubten immer, er würde gleich zuschlagen, dabei war er nur nervös oder leicht verärgert. Annie hob einen zitternden Zeigefinger.
    »Schrei mich nicht an, Felix. Ich will doch hoffen, du bist nicht hergekommen, um zu streiten, denn ich bin wirklich alles andere als belastbar.«
    Felix stöhnte und setzte sich neben sie auf die Backsteinbrücke. Er legte ihr sanft die Hand aufs Knie, es war als väterliche oder freundschaftliche Geste gemeint, doch sie griff sofort danach und hielt seine Hand fest umklammert.
    »Siehst du? Da drüben? Sie haben geflaggt. Es ist jemand zu Hause. Der beste Blick der ganzen Stadt.«
    »Annie ...«
    »Meine Mutter wurde noch bei Hofe eingeführt. Und meine Großmutter auch.«
    »So.«
    »Ja, Felix, genau so. Das habe ich dir aber sicher schon erzählt.«
    »Ja, hast du, kann man sagen.«
    Er befreite seine Hand und stand wieder auf.
    »›Sie fliehn vor mir, die einst mich suchen kamen‹«, sagte Annie leise, entledigte sich ihres Kimonos und legte sich nackt in die Sonne. »Im Gefrierschrank ist Wodka.«
    »Ich hab dir doch gesagt, ich trinke nicht mehr.«
    »Immer noch nicht?«
    »Ich hab’s dir gesagt. Deswegen bin ich nicht mehr gekommen. Nicht nur deswegen, auch aus anderen Gründen. Ich bin clean. Solltest du dir auch mal überlegen.«
    »Aber Schätzchen, ich bin doch clean. Seit zwei Jahren schon.«
    »Abgesehen vom Koks, vom Dope, vom Alk, von den Pillen ...«
    »Ich sagte, ich bin clean, keine Mormonin!«
    »Ich mein ja nur, man muss richtig damit aufhören.«
    Annie stützte sich auf die Ellbogen und schob sich die Sonnenbrille ins Haar. »Und mir jeden Tag anhören, dass irgendwelche Leute darüber labern, wie sie mal komplett vollgekotzt auf der Müllkippe aufgewacht sind? So tun, als wäre alles, was ich je an Gutem erlebt habe, bloß eine Art ausgedehnter Jugendverirrung?« Sie streckte sich wieder aus und schob die Sonnenbrille zurück. »Nein danke. Holst du mir bitte einen Wodka? Mit Zitrone, falls du welche findest.«
    Schräg gegenüber, auf einer anderen Dachterrasse, ließ eine schlicht gekleidete Japanerin – schmale schwarze Hose, schwarzer V-Ausschnitt – das Tablett fallen, das sie trug. Ein Glas ging zu Bruch, ein Teller mit Essen segelte durch die Luft; den anderen fing sie irgendwie noch auf. Sie war auf dem Weg zu einem kleinen schmiedeeisernen Tisch gewesen, an dem ein schlaksiger Franzose mit ironischen roten Hosenträgern und bis zu den Waden hochgekrempelter Jeans saß. Jetzt sprang er auf. Im selben Moment kam ein kleines Mädchen nach draußen gelaufen, begutachtete die häusliche Tragödie und schlug die Hand vor den Mund. Alle drei waren Felix vertraut; er hatte sie im Lauf der Jahre oft gesehen. Anfangs nur sie; dann war er eingezogen. Dann kam das Baby, das inzwischen wie vier oder fünf aussah. Wo war nur die Zeit geblieben? Bei schönem Wetter hatte er oft beobachtet, wie die Frau mit einer richtigen Kamera auf einem Stativ Fotos von ihrer Familie machte.
    »Hoppala«, sagte Annie. »Ärger im Paradies.«
    »Annie, hör mir mal zu: Weißt du noch, die Frau, von der ich dir erzählt hab. Die, mit der es ernst ist.«
    »Ich fürchte wirklich, das geschieht ihnen ganz recht. Sie können ja nicht einfach in der Wohnung essen. Das wäre ja wirklich eine viel zu große Zumutung. Stattdessen müssen sie jedes Miso-beträufelte Balsamico-Kabeljaufilet einzeln auf dem Tablett hoch tragen, um es auf der verfickten Terrasse zu essen und sich dabei zweifellos die ganze Zeit zu sagen: Was haben wir für ein Glück, dass wir auf der Terrasse essen können! Das ist ja fast wie in der Toskana! Hast du die schon probiert, Schatz? Das sind Zucchiniblüten in Tempura. Japanisch-italienische Fusion-Küche! Habe ich mir selbst ausgedacht. Soll ich sie nicht fotografieren? Dann stellen wir sie gleich auf unser Blog!«
    »Annie.«
    »Unser Blog namens Jules & Kim .«
    »Ich und diese Frau. Grace. Das ist was Ernstes. Ich werd nicht mehr herkommen.«
    Annie hielt eine Hand in die Höhe und inspizierte ihre Nägel, obwohl keiner auch nur bis zur Fingerspitze reichte, zu beiden Seiten Hautfetzchen abgerissen waren und rings um die Nagelhaut getrocknete Blutreste klebten. »Verstehe. Hatte sie nicht auch noch einen anderen?«
    »Das ist vorbei.«
    »Verstehe«, sagte Annie wieder, drehte sich auf den Bauch und reckte die Füße mit dem eindrucksvollen Spann in die

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