London NW: Roman (German Edition)
markieren. Jetzt ist er kein großer Macker mehr.« Und statt Angst überkam ihn ein Gefühl von Mitleid; er wusste noch, wie es war, als nichts anderes gezählt hatte, als der große Macker zu sein. Er griff sich in die Taschen. Sollten sie sein Handy ruhig haben. Wenn nötig auch den einsamen Zwanziger. Er war oft genug überfallen worden und kannte den Ablauf. Früher, als er jünger war, hätten sie noch sein Ego gekränkt; jetzt war der alte Zorn, die alte Demütigung verschwunden – sollten sie doch alles haben. Das eigentlich Wichtige war anderswo. Er versuchte zu lachen, als er ihnen seine mageren Wertsachen hinhielt: »Vor zwei Stunden hättet ihr mich erwischen müssen, Jungs. Vor zwei Stunden hatte ich richtig Schotter dabei.« Der Junge sah ihn aus leblosen Augen an, die Miene zur bösen Schnute erstarrt. Die Maske war nötig, sonst hätte er nicht tun können, was er tat. »Und die Steine«, sagte der Junge. Felix fasste sich an die Ohren. Seine geliebten Zirkonias, die Grace ihm geschenkt hatte.
»Träum weiter«, sagte er.
Noch einmal wandte er sich zur Straße. Ein Windstoß zog über alle drei hinweg, blähte ihre Kapuzen und wirbelte eine Wolke Ahornblätter über den Gehsteig. Ein kräftiger Schlag traf ihn in die Seite. Ein Schlag? Der Schmerz durchschnitt ihn von links, bis tief hinein, bis weit nach unten. Warme Flüssigkeit stieg ihm die Kehle hoch. Quoll ihm über die Lippen. Aber solange er es noch benennen konnte, konnte es nicht das Nichts sein, und mit diesem Gedanken im Kopf sagte er laut, was ihm geschehen war, was ihm geschah, er versuchte, es laut zu sagen, er sagte nichts. Grace! Über die Willesden Lane rumpelte ein Bus heran; im selben Moment, als Felix den Griff und die Klinge registrierte, sah er auch, wie der Bus der Linie 98 seine Türen noch einmal öffnete, um die letzte Menschenseele in Sichtweite einzulassen – ein kleines Mädchen im gelben Sommerkleid. Sie flitzte heran, die Fahrkarte hoch über dem Kopf, als wollte sie damit irgendwas beweisen, kam gerade noch rechtzeitig an, rief: »Danke!«, und die Türen schlossen sich fest hinter ihr.
Gastgeberin
1. Diese roten Zöpfe
Es hatte ein Ereignis gegeben. Davon zu berichten, erforderte das Plusquamperfekt. Keisha Blake und Leah Hanwell, die Hauptakteurinnen bei dem Ereignis, waren vierjährige Kinder gewesen. Das Freibad – eigentlich nur eine flache Mulde im Park, an der tiefsten Stelle einen halben Meter tief – war voller Kinder, die »überall herumplanschten und verrücktspielten«. Zum Zeitpunkt des Ereignisses gab es noch keinen Bademeister, und es blieb den Eltern überlassen, aufzupassen, so gut es ging. »Oben auf dem Hügel, auf der Heath, da hatten sie natürlich einen Bademeister. Aber nicht bei uns.« Das war ein aufschlussreiches Detail. Keisha – inzwischen zehn und hochinteressiert an den Spannungen zwischen Erwachsenen – versuchte, seine Bedeutung zu ergründen. »Träum nicht. Hoch mit dem Fuß«, sagte ihre Mutter. Sie saßen auf einer Bank im Schuhgeschäft an der Kilburn High Road, und Keisha musste langweilige braune Schuhe mit T-Riemen anprobieren, die nichts von der Freude ausdrückten, die es auf dieser Welt sicherlich auch geben musste, trotz allem. »Ich hatte mit Cheryl zu tun, die sich in einer Ecke aufführte, und den brüllenden Jayden auf dem Arm, und musste noch schauen, wo du bist, irgendwie den Überblick behalten ...« In diese Auslassung fiel das Ereignis: Ein Kind wäre fast ertrunken. Bedeutend war das Ereignis aber aus einem anderen Grund. »Da kamst du plötzlich hoch, mit diesen roten Zöpfen in der Hand. Du hast sie rausgezogen. Du hast als Einzige gemerkt, dass sie in Gefahr ist.« Nach dem Ereignis hatte sich die Mutter des Kindes, eine Irin, unzählige Male bei Marcia Blake bedankt, und das war in sich schon fast wieder ein eigenes Ereignis. »Ich kannte Pauline vom Sehen, hatte aber nie mit ihr geredet. Sie hat mich damals immer ziemlich von oben herab behandelt.« Keisha konnte dem Bericht weder widersprechen noch zustimmen – sie hatte keine Erinnerung daran. Die enthaltenen Vorausdeutungen waren allerdings als verdächtig zu werten. Ihre eigene viel gepriesene Willenskraft und Umsicht, die sich darin so klar erwies, und Cheryl schon damals wild und unzuverlässig. Außerdem konnte es Jayden zum Zeitpunkt des Ereignisses noch gar nicht gegeben haben, weil er fünf Jahre jünger war als Keisha. »Halt jetzt still«, brummte Marcia und schob die Eisenstange nach
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