London NW: Roman (German Edition)
Zeitlupe
Eine polnische Kellnerin umrundete diskret den Tisch, um die Vegetarier auszumachen. Frank redete viel und wild durcheinander, taumelte von Thema zu Thema. Wo sie früher nur widerliches Anspruchsdenken wahrgenommen hatte, entdeckte Natalie jetzt Unsicherheit, die klar und wahr unter allem lag. War es möglich, dass sie ihn nervös machte? Dabei saß sie doch nur ganz ruhig hier und schaute auf ihren Teller. »Du hast die Haare anders. Sind die echt? Ist das deine Butter? Hast du das mit James Percy mitgekriegt? Er ist gerade Partner geworden. Auf Anhieb. Du siehst gut aus, Blake. Richtig toll. Ehrlich, ich dachte, du bist längst durch, wenn ich hier ankomme. Was hast du denn das ganze Jahr gemacht? Hier kommt meine Beichte zwischen zwei Bissen Brot: Ich war Ski fahren. Aber für den juristischen Aufbaukurs war auch noch Zeit genug. Ich bin also nicht der Penner, für den du mich hältst.« »Ich halte dich doch nicht für einen Penner.« »Oh doch, tust du. Nein, ich nehme bitte den Rinderbraten. Aber was hast du so getrieben?« Natalie Blake war nicht Ski fahren gewesen. Sie hatte in einem Schuhgeschäft im Brent Cross Shopping Center gejobbt, Geld gespart, bei ihren Eltern in Caldwell gewohnt und davon geträumt, das Mansfield-Stipendium zu bekommen, was ihr tatsächlich ...
Da tauchte sehr zerknirscht Doktor Singh auf und ersetzte den turbanbewehrten Potentaten, den Natalie vor ihrem inneren Auge gesehen hatte, durch eine zierliche, kahl geschorene Dame Mitte dreißig, unter deren Talar eine dunkelrote Seidenbluse hervorblitzte. Sie setzte sich. Der Richter kam zum Schluss. Der Beifall klang wie ein Aufschrei.
90. Kontextprobleme
Vom Flirten mit Francesco De Angelis ging Natalie Blake nun dazu über, Doktor Singh all ihre akademischen Leistungen aufzuzählen. Doktor Singh wirkte erschöpft. Sie schenkte Natalie Wasser nach. »Und was machen Sie in Ihrer Freizeit?« Frank beugte sich hinüber. »Für Freizeit bleibt keine Zeit – sie ist nämlich eine Lohnsklavin. Hat ja lange Tradition.« Das war mit Sicherheit als Witz gemeint, wenn auch ziemlich platt, und Natalie zwang sich zu lachen, registrierte aber, dass Polly errötete und Jonathan starr auf den Tisch schaute. Frank versuchte, sich zu retten, indem er eine breitere soziologische Perspektive aufmachte. »Aber wir sind ja auch gewissermaßen eine aussterbende Art.« Er sah sich im Saal um, eine Hand an der Stirn. »Moment. Da drüben ist noch einer. Das macht insgesamt vielleicht sechs. Die Zahlen sinken.« Er war betrunken und blamierte sich. Sie fühlte mit ihm. Das »wir« klang seltsam aus seinem Mund – unnatürlich. Er wusste ja nicht einmal, wie er das sein sollte, was er war. Woher auch? Sie war völlig damit beschäftigt, sich zu beglückwünschen, weil sie sich in Francesco De Angelis einfühlen und seine sonderbare Misere so genau analysieren konnte, und so fiel ihr erst einen Moment später auf, dass Doktor Singh sie beide stirnrunzelnd musterte.
»Wir haben hier ein höchst effizientes Gleichstellungsprogramm«, sagte Doktor Singh steif und wandte sich der blonden jungen Frau zu ihrer Linken zu.
91. Mittwoch, 12 Uhr 45: Fürsprache
Vier Studenten und eine Dozentin nahmen ihre Plätze vorn im Seminarraum ein. Kläger und Beklagte erhielten Namen wie aus dem Kinderbuch: Herr Zaster der Geldwäscher, Herr Zündel der Feuerteufel. Zu diesem Zeitpunkt war Natalie Blake gezwungen, den Raum zu verlassen und die Toilette aufzusuchen, um ihre Haare zu bändigen. Es war viel zu warm für die Jahreszeit, und sie war nicht darauf vorbereitet. Schweiß perlte auf der Kopfhaut zwischen den geglätteten Haaren hervor und kräuselte sie, und je mehr sie daran dachte, desto schlimmer wurde es. Bei allem Ehrgeiz war sie im Herzen doch immer noch das Mädchen aus NW und konnte die drohende Krise nicht einfach ignorieren. Sie eilte den Gang entlang. Im Waschraum ließ sie kaltes Wasser ins Waschbecken, strich sich das Haar zurück und tauchte das Gesicht hinein. Als sie wiederkam, war nur noch neben Francesco De Angelis ein Platz frei. Hatte er den für sie frei gehalten? Die Erfindung der Liebe: Teil drei. Als sie sich setzte, spürte sie seine Hand am Knie. Oberhalb der Tischplatte schob er ihr einen Bleistift hin.
»Tut mir leid wegen neulich abends, Blake. Manchmal bin ich echt ein Blödmann. Eigentlich meistens.«
Dieses Phänomen war Natalie Blake bisher noch nicht untergekommen: ein Mann, der von sich aus einen Fehler erkannte und sich
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