London NW: Roman (German Edition)
Natalie eine Antwort stammeln konnte, lachte Elena auf. »Keine Angst – ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie mich anlügen. Cesco wird kein Jurist, das war von vornherein klar. Aber ich hatte gehofft, es könnte ihm insgesamt nützlich sein, für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Bei seinem Onkel war das so. Na. Immerhin hat er Sie kennengelernt. Sie sind die erste echte Frau, die er mir vorstellt. Das will doch was heißen. Sagen Sie, stimmt es wirklich, dass Sie eine bestimmte Anzahl Abendessen im Jahr absolvieren müssen, um als Barrister zugelassen zu werden?« Natalie sah zu, wie Elena auf ihren Teller aschte. Sie wollte unbedingt erfahren, wie diese Frau einen Bahnwärter aus Trinidad hatte lieben und verlieren können. »Ja«, sagte sie, »zwölf. Im großen Speisesaal. Früher waren es sechsunddreißig.« Elena entließ zwei Rauchfädchen aus den Nasenlöchern. »Was ist das nur für ein merkwürdiges Land!« Ein Kellner näherte sich, und die Rechnung wurde irgendwie beglichen, ohne dass umständlich nach Brieftaschen und Geld gekramt werden musste. Niemand erwähnte das Rauchverbot. »Cesco, ruf bitte endlich deinen Cousin an. Ich habe ihm schon vor zwei Wochen gesagt, dass du dich meldest, sie können den Posten nicht ewig frei halten. Das wird langsam unangenehm.«
101. Weiter, höher
Frank fiel mit Pauken und Trompeten durch die Zulassungsprüfung, kam eine Dreiviertelstunde zu spät und ging zehn Minuten vor Schluss. Hinterher rief er gleich seine Mutter an. Natalie sah, dass das Gespräch ihn aufheiterte. Elena war eine Frau, die die spektakuläre Katastrophe dem herkömmlichen Scheitern deutlich vorzog.
Leah Hanwell hatte eine triste Wohnung südlich vom Fluss, in New Cross, gefunden, und um der alten Freundschaft willen zog Natalie Blake dort mit ihr ein. Auf den langen Dreiecksfahrten mit der Tube – New Cross, Lincoln’s Inn, Marylebone – las sie ihre Schriftsätze. Sie schlüpfte zu Frank ins Bett. Schlüpfte heraus. Schlüpfte wieder hinein. »Wie spät ist es?« »Viertel nach elf.« »Ich muss los!« Sie machte den Versuch, sich zum Aufstehen zu zwingen, den Nachtbus Richtung Süden zu nehmen. »Deine Prinzipien verbringen mehr Zeit in dieser Bruchbude als du«, bemerkte er. Sie sank zurück in die Kissen.
Von plötzlichem, schwer vorhersehbarem Scharfsinn.
Albern und immer liebevoll. Er rief sie ständig an.
Als sie gerade durch die Bahnsteigschranke ging, klingelte das Handy, das er ihr geschenkt hatte: »Natalie Blake, du bist buchstäblich der einzige Mensch auf Erden, mit dem ich es aushalte.«
Es war das Jahr, als plötzlich alle ›buchstäblich‹ sagten.
Frank saß an seinem Schreibtisch bei Durham and Macaulay Investments und spekulierte auf die künftigen Preise von Dingen, die er ihr kaum erklären konnte. Weitere Symbole, vermutete sie, diesmal allerdings welche, die sie nicht entschlüsseln konnte.
102. Bring dich in Sicherheit
Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, bemühte Natalie Blake ein althergebrachtes Bild. Ein breiter Fluss. Unruhige Strömung. Vorwärts von Stein zu Stein. Caldwell, die Prüfungen, die Uni, die Zulassungsprüfung – und nun die praktische Barrister-Ausbildung. Diese letzte Kluft war fast zu breit, um sie zu überwinden. Es gab keine Stipendien mehr und in der ersten Hälfte des Ausbildungsjahrs auch keine Möglichkeit, richtig Geld zu verdienen. Es lief auf einen weiteren Kredit hinaus, dazu das Bausparbuch, das seit ihrer Kindheit unangetastet geblieben war. Die Bausparkasse, ein ortsansässiger Betrieb, arbeitete ebenfalls mit althergebrachten Bildern.
103. Kapitalistenschweine
Er hieß Peter und hatte einen münzgroßen Schlitz auf dem Rücken. Marcia Blake verwaltete das rote Büchlein und verhandelte mit den Schalterbeamten. Wann immer eine bestimmte Schlüsselsumme erreicht war – fünfundzwanzig Pfund, fünfzig Pfund, einhundert Pfund –, bekam das Kind zunächst Peter, dann weitere Mitglieder der bausparkasseneigenen Schweinefamilie. Im Haushalt der Blakes galten die Schweine als Ziergegenstände und standen alle zusammen auf einem Regal im Wohnzimmer. Manchmal gewährte Marcia einen Blick auf die »Guthaben«-Seite mit der unfassbaren – unantastbaren – Summe von beispielsweise einundsiebzig Pfund. Natalie hatte das Geld nie angerührt, und jetzt, zwanzig Jahre später, war doch einiges zusammengekommen. Ach, Erinnerungen! Vielleicht erinnerte sie sich ja auch noch daran, wie sich die alten Ein-Pfund-Noten
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