London NW: Roman (German Edition)
sprintete die Treppe hoch und am Clerks’ Room vorbei, um keine weiteren Schriftsätze zu riskieren. Sie trat hinaus in den Sog der Middle Temple Lane. Alles strömte in dieselbe Richtung, zur Chancery Lane, und sie reihte sich ein, traf zwei Bekannte und dann zwei weitere. Als sie am Seven Stars ankamen, war die Gruppe bereits zu groß für einen der Tische drinnen. Die einzige andere Frau, Ameeta, erbot sich, die Getränke zu holen, und Natalie bot an, ihr tragen zu helfen. »Wodka oder Bier?« Sie hatten vergessen zu fragen. Ameeta, ebenfalls aus der Unterschicht, wenn auch aus Lancashire, wollte unbedingt alles richtig machen – Barrister-Anwärterinnen aus der Unterschicht wollten häufig unbedingt alles richtig machen. Natalie Blake riet zu beidem. Ein paar Minuten später kamen sie in ihren seriösen Kostümen wieder nach draußen, jede ein wackelndes Tablett in der Hand, der Schaum schwappte. Die Männer lehnten am Geländer der Royal Courts und rauchten. Es war ein schöner Spätsommerabend in London. Die Männer pfiffen. Die Frauen kamen näher.
112. Sir Thomas Morus, Lincoln’s Inn, 1496
»Hoch mit dem Mädchen! Sie heiratet schließlich. Ach, die Guten erwischt es immer als Erstes. Wie heißt er noch gleich? Francesco. Ein Italo-Macker? Da liegt ja wohl ein Verfahrensfehler vor. Trinidad ist auch mit drin. DAS IST JA WOHL EIN BISSCHEN ÜBERTRIEBEN POLITISCH KORREKT! Aber im Ernst, Nat. Viel Glück! Wir wünschen dir alle wahnsinnig viel Glück. Ich glaub ja nicht an Glück. Wo ist überhaupt meine Einladung? Ja, genau, wo ist meine Einladung? Achtung, das Glas! Keiner ist eingeladen, nicht mal die Verwandtschaft. Wir möchten allein sein. Ooooh, wie exklusiv! Jetzt hebt sie schon hoch. Reich ist er auch noch, sagt Polly. Durham and Macaulay. Schnellschuss im Standesamt von Islington und danach Flitterwochen in Positano. Business Class. Oh ja, wir wissen alles. Absolut alles. Unsere Blake ist ja nicht blöd. Autsch! Nicht hauen! Tatsache ist doch, du bist übergelaufen. Ins Feindeslager. Und wir müssen jetzt ohne dich weiter nach der Liebe suchen. Dieser Francesco: Wie steht er denn zu Sex nach der Ehe? Da sind die Italiener ja ganz gut drin. Und katholisch, gehen wir mal von aus. Ja, gehen wir von aus. Frank. Alle sagen Frank zu ihm. Er ist nur Halbitaliener. Jake, du nimmst das rechte Bein. Ezra, du nimmst das linke. Ameeta, du den Hintern. Lasst mich runter! Du hast die Arschkarte gezogen, Ameeta. Einspruch! Wieso kriegt Ameeta eigentlich das Beste ab? Weil’s mir zusteht. Einspruch abgelehnt. Wieso darf man als Mann heutzutage eigentlich nicht mehr vom Hinterteil einer Dame reden. ICH SAG EUCH, DAS IST WIRKLICH ÜBERTRIEBEN POLITISCH – ach, scheiß doch drauf. Eins zwei drei HOCH .«
Und so trugen die angehenden Barrister Natalie Blake johlend über die Straße. Ihre Nase auf einer Höhe mit den Türstöcken aus dem sechzehnten Jahrhundert. So weit weg von zu Hause!
» HEI, HEUTE MORGEN MACHT SIE HOCHZEIT !«
»Übermorgen. Was ist denn das da oben eigentlich für ein Denkmal?«
»Mein Latein ist eingerostet – ich hab keinen blassen Schimmer ... Wo wollen wir denn hin? Nach Norden? Nach Westen! Welche U-Bahn brauchst du, Nat? Jubilee?«
113. Miele di Luna (zwei Wochen)
Sonne.
Prosecco.
Himmel, blassblau.
Schwalben. Hoch am Himmel. Tiefer.
Blaue Kiesel.
Rote Kiesel.
Fahrstuhl zum Strand.
Leerer Strand. Sonnenaufgang. Sonnenuntergang.
»Weißt du eigentlich, wie selten das in Italien ist?
Dafür zahlt man hier
– für die Ruhe!«
Oh.
Er schwimmt. Jeden Tag.
»Das Wasser ist perfekt!«
Winken.
Englische Zeitungen. Zwei Bier. Arancini.
»Können wir das vielleicht hier auf die Karte schreiben? Wir haben Zimmer 512. Ich habe auch meinen Pass dabei.«
»Selbstverständlich, Madam, Sie haben die Honeymoon-Suite. Darf ich Sie etwas fragen? Woher kommen Sie?«
Winken.
Die Kellner tragen weiße Handschuhe.
Todesanzeigen. Rezensionen. Von vorn bis hinten.
Rum-Cola. Käsekuchen.
»Kann ich das direkt aufs Zimmer schreiben lassen? Ihr Kollege meinte, das wäre in Ordnung. 512.«
»Aber sicher, Madam. Wie nennen Sie das in Ihrer Sprache?«
»Das ist ein Fernglas. Mein Mann beobachtet gern Vögel. Kommt mir seltsam vor, das zu sagen.«
»Fernglas?«
»Nein: Mein Mann.«
Der öffentliche Strand liegt am äußersten Rand der Halbinsel. Sechseinhalb Kilometer von hier. Juchzen. Kreischen. Gelächter. Musik aus Lautsprechern. Mehr Menschen als Sand.
Schade, dass
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