London NW: Roman (German Edition)
Grunde selber nicht verstand. Er mogelte sich jeden Tag durch. Sie hatte immer schon gewusst, dass sein Selbstwertgefühl anfällig war und auf tönernen Füßen stand, und diese Eigenschaft – ihren bisherigen Erfahrungen nach unter Männern flächendeckend verbreitet – erschien ihr als geringer Preis für seine bereits erwähnte Ehrlichkeit, sexuelle Offenheit und Schönheit.
»... und das hab ich Elena auch genau so gesagt: Die Frau schließt mit der zweitbesten Note des ganzen Jahrgangs ab – selbst wenn ich sie nicht lieben würde, macht es doch keinen Sinn, solche Fähigkeiten einfach verkommen zu lassen, weil kein Geld da ist – das macht rein ökonomisch keinen Sinn! Und nachdem deine eigenen Eltern sich aus irgendwelchen Gründen weigern, dir zu helfen ...«
»Sie weigern sich nicht, Frank – sie können nicht!«, rief Natalie Blake und setzte zu einer glühenden Verteidigung ihrer Familie an, ungeachtet dessen, dass sie mit keinem Familienmitglied noch ein Wort wechselte.
108. Politische Verschiebungen
»Cheryl könnte aufhören, ständig Kinder zu kriegen. Dein Bruder könnte sich einen Job suchen. Sie könnten aus dieser geldgierigen Sekte austreten. Deine Familie trifft schlechte Lebensentscheidungen – das ist eine Tatsache.«
»Du solltest lieber den Mund halten, du hast nämlich überhaupt keine Ahnung, wovon du da redest. Und ich will so was auch nicht mitten in der Tube besprechen!«
Anscheinend hatten Natalie Blake und Francesco De Angelis unterschiedliche Auffassungen davon, was das Wort »Entscheidung« bedeutete. Und beide glaubten, ihre jeweilige Ansicht verdanke sich objektiven Überlegungen und sei in keiner Hinsicht ihrer gegensätzlichen Herkunft geschuldet.
109. John Donne, Lincoln’s Inn, 1592
Aus dem Clerks’ Room über ihnen war Tumult zu hören. Polly hatte ein kluges Bonmot dafür parat: »Cockney-Konzert für mehrere Schimpftiraden«.
»Wann geht dein Flieger, Nat?«
»Morgen früh um sieben.«
»Überleg dir mal, wo du lieber sein willst: in der Toskana oder am West London Youth Court? Im Ernst, mach dich vom Acker, solange es noch geht.«
Sie waren die letzten verbliebenen Anwärter im Pupils’ Room. Alle anderen waren entweder noch vor Gericht oder längst im Pub.
»Du kannst sogar meine letzte Zigarette haben. Sieh es als Teil der Mitgift.«
Natalie streifte ihren Mantel über, während Polly das Feuerzeug betätigte, doch sie waren nicht schnell genug, um Ian Cross, einen der Clerks, zu umschiffen, der mit einem Schriftsatz in der Hand die Treppe herunterkam.
»Ey, macht die aus. Konzentriert euch. Wer will das haben?«
»Worum geht’s denn?«
Ian drehte den Schriftsatz in der Hand: »Junkies. Diebstahl. Bisschen Brandstiftung. Die Notizen hintendrauf verdanken wir Mr Hampton-Rowes, einem von Bridgestones Jungspunden. Wurde in letzter Sekunde zu Höherem berufen. Der Aufstand um den Reverend Marsden. Große Sache.«
Natalie beobachtete, wie Polly rot anlief und gespielt beiläufig nach dem Schriftsatz griff: »Was denn für ein Reverend?«
»Du machst wohl Witze? Der Pfarrer, der die Nutte zerstückelt und am Camden Lock entsorgt hat. Alles war voll davon. Liest du keine Zeitung?«
»Solche nicht.«
»Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Kindchen. Heutzutage gibt es nur noch eine Sorte Zeitung.« Er grinste, und das Feuermal um sein linkes Auge warf furchterregende Falten. Noch eins von Pollys klugen Bonmots: »Darauf beschränkt sich das Feuer seiner Persönlichkeit.«
»Ich übernehm’s. Sie hat keine Zeit. Nat heiratet am Samstag.«
»Respekt. Sollte jeder machen. Niemand ist eine Insel, sag ich immer.«
»Ach, du warst das? Ich hatte mich schon gefragt, von wem das stammt. Nat, Schätzchen, heb dich hinweg. Bring dich in Sicherheit. Trink ein Glas für mich mit.«
110. Einschub zur Persönlichkeit
(Manchmal, wenn Natalie sich über Pollys knappe Analysen der Persönlichkeit anderer amüsierte, fürchtete sie, Polly könnte, wenn sie, Natalie, nicht dabei war, auch ihre, Natalies, Persönlichkeit derart verknappen; wobei sie sich zu ernsthaften diesbezüglichen Befürchtungen allerdings trotzdem nicht durchringen konnte, denn im Grunde konnte sie sich nicht vorstellen, dass über sie, Natalie, jemals auf dieselbe Weise geredet werden könnte, wie sie, Natalie, über andere redete und über andere reden hörte. Aber nur mal als Gedankenspiel: Was machte Natalie Blakes Persönlichkeit aus?)
111. After-Work-Drinks
Natalie Blake
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