London Road - Geheime Leidenschaft
im Fernsehen ein und wartete auf sein Essen.
Ich hatte gerade die Teller auf den Tisch gestellt und ein Glas Saft für Cole, Tee für mich und Wasser für Mum geholt, als sie aus ihrem Zimmer kam. Die langen grauen Unterhosen schlackerten ihr um die Beine, und sie schlurfte auf uns zu, als hätte sie starke Schmerzen. Was vermutlich auch der Fall war.
Sie hockte sich auf die Sofakante. Die violetten Schatten unter ihren Augen waren so unheimlich, dass ich kaum noch etwas anderes an ihr wahrnahm. Sie machte keinerlei Anstalten, sich ihr Essen zu nehmen, sondern starrte bloß auf ihren Teller mit dem frittierten Haggis und den Chips. Kauend schob ich ihr den Teller hin. »Abendessen.«
Sie gab ein unbestimmtes Geräusch von sich, woraufhin ich mich abwandte und meine Aufmerksamkeit dem Fernseher widmete. Mein Bruder und ich taten so, als würden wir die Sendung gespannt verfolgen, aber an Coles verkrampfter Körperhaltung sah ich, dass er sich in Mums Gegenwart genauso unbehaglich fühlte wie ich.
Fünf Minuten später hatte sich die Anspannung gerade ein klein wenig gelegt, und Mum hatte es geschafft, im Zeitlupentempo ein paar Bissen herunterzubringen, als sie alles ruinieren musste.
Wie immer.
Cole war inzwischen ganz in die Comedy-Show vertieft. Er lachte über eine Pointe und drehte sich zu mir, um zu sehen, ob ich sie genauso witzig fand wie er. Das hatte er schon als kleines Kind gemacht. Immer, wenn er etwas lustig fand, musste er sich vergewissern, dass es mir auch so ging. Ich lächelte ihm zu.
»Pah!«
Prompt wurden meine Muskeln steinhart, genau wie Coles.
Auf ein »Pah!« von meiner Mutter folgte in der Regel etwas Unangenehmes.
»Schau ihn dir nur an«, sagte sie verächtlich.
Ich saß neben Cole auf dem Boden, deswegen musste ich mich umdrehen, um sehen zu können, was ihren Zorn erregt hatte. Mein Blut wurde heiß, als ich merkte, dass ihr Blick auf Cole gerichtet war.
»Mum …«, sagte ich warnend.
Ihr Gesicht verzog sich zu einer hasserfüllten Fratze. »Lacht genauso wie dieses verdammte nichtsnutzige Schwein von einem Mann.«
Ich schielte zu Cole, und eine eiserne Faust umklammerte mein Herz, als ich sein erschrockenes Gesicht sah. Er blickte angestrengt auf den Teppich, als versuche er mit aller Macht, ihre Worte auszublenden.
»Der wird mal genauso einer werden wie sein Vater. Ein Stück Scheiße. Ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein Stück …«
»Sei still!«, fuhr ich sie an. »Du kannst hier sitzen und in Ruhe dein Abendessen essen oder in dein Zimmer gehen und dir einen Vollrausch antrinken, aber behalt die widerlichen Gedanken, die dein Säuferhirn ausbrütet, gefälligst für dich.«
Mum fluchte und stellte ihren Teller so heftig auf dem Couchtisch ab, dass die Chips durch die Gegend flogen. Dann stemmte sie sich vom Sofa hoch, während sie irgendetwas von wegen undankbare Gören und kein Respekt vor sich hin knurrte.
Kaum war sie in ihrem Zimmer verschwunden, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. »Hör nicht auf das, was sie sagt, Cole. Du bist kein bisschen so wie Dad.«
Ohne mich anzusehen, zuckte Cole die Achseln. Seine Wangen brannten. »Ich frag mich, wo er wohl ist.«
Ich erschauerte bei dem Gedanken daran, es jemals herauszufinden. »Das ist mir egal, solange er nur weit weg ist.«
Später am Abend, nachdem ich die Wohnung aufgeräumt, den Abwasch gemacht und im Wohnzimmer und in der Küche Lufterfrischer versprüht hatte, um den Geruch von Frittiertem zu vertreiben, ließ ich mich neben Cole auf der Couch nieder. Er war fertig mit seinem Referat und hatte die Seiten seines Comics um sich herum ausgebreitet.
Ich gab ihm einen Becher heiße Schokolade und verzog mich dann vorsichtig ans andere Ende, um mich nicht auf seine Zeichnungen zu setzen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich ein auf dem Kopf liegendes Blatt. Ich konnte nicht erkennen, was darauf abgebildet war. »Worum geht’s in dem Comic?«
Cole zuckte mürrisch die Achseln. »Weiß nicht.«
»Wieso nicht?«
»Jamie und Alan wollten mir eigentlich helfen, aber …«
Uh-oh. Seine gereizte Stimme verhieß nichts Gutes. »Aber …?«, hakte ich nach. Ich überlegte. Es war tatsächlich schon eine ganze Woche her, seit Cole mich zum letzten Mal gefragt hatte, ob er Jamie besuchen durfte. »Habt ihr euch gestritten?«
»Kann schon sein.« Zumindest glaubte ich, dass sich sein Genuschel so übersetzen ließ.
Oje. Cole war ziemlich entspannt und zankte sich so gut wie nie
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