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Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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königlichen Verwaltung – verbreiteten. Er fand es sehr angenehm, an einem so stillen und friedlichen Ort zu leben, der doch so nahe am Zentrum allen Geschehens war.
    Er war glücklich, als er seine Gelübde ablegen durfte. »Diese drei Gelübde«, erklärte ihm der alte Mönch, der ihn darauf vorbereitete, »werden dir für den Rest deines Lebens wie Freunde sein, die dich auf deinem Weg zu Gott begleiten. Warum verpflichten wir uns der Armut?«
    »Weil unser Herr sagt: ›Wo dein Reichtum liegt, befindet sich dein Herz. Verkaufe alles, was du hast, und folge mir.‹«
    »Genau. Man kann nicht gleichzeitig Gott und weltliche Güter lieben. Wir entscheiden uns für Gott. Und die Keuschheit?«
    »Der dem Fleische folgt, vernachlässigt die Seele.«
    »Und Gehorsam?«
    »Um meinen Stolz und meine Wünsche zu beschwichtigen.«
    »Und dich von denjenigen leiten zu lassen, die weiser sind als du.« Diese drei Gelübde wurden von jedem christlichen Mönch abgelegt. »Sei ihnen treu, wie du es guten Freunden bist, dann werden sie dich beschützen.«
    Bruder Michael hatte seine Gelübde geschworen und sie eingehalten. Auch wenn er sah, daß nicht alle Mönche in Westminster keusch, gehorsam oder in Armut lebten, so wußte er, daß es nur menschliche Schwäche war, und betete für sie.
    Ein Jahr nach Michaels Eintritt hatte der Papst, nachdem er das große Werk Life gelesen hatte, das die Abtei über das Leben des Monarchen verfaßt hatte, den Bitten der Mönche Gehör geschenkt und ihren ehemaligen Patron, Eduard den Bekenner, heiliggesprochen. Michael war glücklich, als er mit den Schreibern Kopien von Manuskripten anfertigen durfte, denn er liebte Bücher, und die Abtei hatte eine ausgezeichnete Bibliothek. »Unsere Abtei ist älter als St. Paul's«, hatten ihm seine Glaubensbrüder erklärt. »Der Heilige Petrus ist persönlich nach Britannien gekommen und hat dieses Kloster gegründet.«
    Erst im Lauf der Zeit stieß er auf einiges, das ihn beunruhigte. War die Abtei mit ihren ständig wachsenden Ländereien nicht einfach ein wenig zu reich? Lebten die Mönche nicht ein wenig zu gut? Was war aus dem Armutsgelübde geworden? Jahrelang hatte er solche Zweifel beiseite geschoben. Das Leben in Westminster hatte ihm viele Freuden beschert. Doch vor zwei Monaten war etwas geschehen.
    Seit mehreren Jahren kopierte er Manuskripte im Skriptorium. Die Dokumentation und Betreuung der klösterlichen Unterlagen oblagen den älteren Schreibern. Michael fühlte sich sehr geehrt, als ihn eines Morgens einer dieser Schreiber um seine Hilfe bat. In der Hand hielt er eine Urkunde, die von einem alten sächsischen König stammte, wie Michael gleich erkannte. »Was sollen wir damit tun?« fragte er.
    »Mach sie älter«, erwiderte der Mönch. »Du weißt schon, einstauben, einölen, laugen.«
    Da begann Bruder Michael zu verstehen. Im darauffolgenden Monat sah er sich die meisten Urkunden der Westminsterabtei an und verbrachte viele Stunden mit aufmerksamsten Studien. Schließlich ging er zum Abt und verkündete ernst: »Ich habe entdeckt, daß mindestens die Hälfte aller Urkunden der Abtei gefälscht ist.«
    Doch der Abt lachte nur.
    Die Lage in der Westminsterabtei war sogar noch schlimmer, als Bruder Michael anfangs gedacht hatte. Das große Werk Life über Eduard den Bekenner war größtenteils Fiktion. Es gab keinerlei Beweis für die Behauptung der Abtei, älter zu sein als St. Paul's. Und so wurde es als Wille Gottes ausgelegt, die fehlenden Unterlagen bereitzustellen. Sie wurden einfach gefälscht. In einer Zeit, in der solche Fälschungen vor allem im Benediktiner-Orden in ganz Europa weit verbreitet waren, war die englische Westminsterabtei die unumstrittene Meisterin auf diesem Gebiet. Urkunden von Grundbesitzschenkungen, königliche Erlasse zu Steuerbefreiungen, selbst päpstliche Bullen – manche dieser Unterlagen waren so hervorragend gefälscht, daß sie jahrhundertelang nicht angezweifelt wurden.
    Ein paar Tage, nachdem der Abt Michael erklärt hatte, daß er sich keine Sorgen machen sollte, wurde er wieder um seine Hilfe gebeten, doch er verweigerte sie.
    Innerhalb von wenigen Wochen wurde die Lage unerträglich. Man erinnerte ihn an sein Gehorsamsgelübde. Er bat Gott um Hilfe, doch er konnte dem Problem nicht entkommen.
    Alle diese Urkunden sollen ja nur die Privilegien und den Reichtum der Abtei stärken, gab er sich selbst zu bedenken. Aber wie paßt dies zu meinem Armutsgelübde? Und was ist das für ein Gehorsam,

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