London
die Reparatur würde mindestens einen Tag dauern. Die Netze gehörten einem rothaarigen Fischhändler namens Barnikel, wie Bull herausfand. Er kannte den Mann flüchtig, doch dieser hatte nur gemeint: »Die Geschichte mit Eurer Kogge tut mir leid, aber ich zahle dem Burghauptmann ein Vermögen, damit ich hier fischen darf.« Bull konnte sich kaum mit dem Mann darüber streiten, so wütend er auch war. Doch eines war ihm klar, und er wußte es mit dem gleichen Gespür für das Richtige und das Falsche, über das auch seine Vorfahren verfügt hatten: Er wurde betrogen. Der König und sein Burghauptmann mißachteten die Interessen der fahrenden Leute der Stadt und betrieben ein unfaires System, ein unsauberes Geschäft. Und als er da so alleine an der Anlegestelle stand, tat er einen stillen, feierlichen Schwur: »Eines Tages werde ich sie daran hindern!«
Zu Hause angekommen, wurde der Alderman von seiner Familie empfangen, die ihn besorgt erwartete. Er dachte, daß sie sich wegen des Schiffes sorgten, und erklärte ihnen kurz, daß das Steuer repariert werden würde. Doch seine Mutter schüttelte nur den Kopf und meinte: »Leider geht es um etwas anderes. Du mußt jetzt ganz ruhig bleiben, Sampson!«
»Um was geht es denn?«
»Nun ja…« Sie hielt inne, weil sie so aufgeregt war. »Es geht um deinen Bruder.«
Bruder Michael stand zitternd vor dem wütenden Abt.
»Du brichst deine Gelübde!« schrie der Abt mit donnernder Stimme.
Bruder Michael besaß ein einfaches Gemüt und eine reine Seele. Er war drei Jahre jünger als Sampson, unterschied sich jedoch von seinem Bruder auf mannigfaltigste Weise. Sampson war eher stämmig, Michael groß und dünn; Gebet und Versenkung hatten sein breites sächsisches Gesicht weich werden lassen; er war ruhig und milde. Doch nun, als sich das gesamte Kloster gegen ihn wandte, zeigte er auch Stärke.
Warum war er Mönch geworden? War es ein jugendliches Auflehnen gegen den Vater gewesen, gegen dessen Grobheit und sein endloses Gerede über Geld? War es wegen Sampson, dem großen Bruder, den er als Kind so verehrt hatte, dessen kleine Grausamkeiten ihn jedoch immer mehr entsetzt hatten? War es ein Sehnen danach, den einfachen Glauben seiner frommen Mutter zu beschützen?
Nein. Es war eine innere Stimme gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, ein wachsendes Gefühl, daß die Welt um ihn herum leer war, ein Bedürfnis nach Reinheit und Einfachheit. Michael wollte die lebendige Anwesenheit Gottes spüren, und zwar jeden Tag. Und er wußte, daß er dies in der Welt nicht tun konnte.
In den letzten Generationen war eine große neue Welle religiösen Gefühls über ganz Europa geschwappt und hatte auch die Küsten Englands erreicht. Die großen Zisterzienserklöster unter Führung des strengen Bernhard von Clairvaux hatten ihre einfachen religiösen Gemeinschaften und Schafzuchten vom Mittelmeer ausgehend bis in die düsteren Moorgegenden Nordenglands verbreitet. Eine plötzliche Begeisterung für die gebenedeite Jungfrau Maria war aufgekommen. Die Straßen zu den Heiligenschreinen Europas waren voller Pilger. Und vor allem war die Christenheit in den letzten siebzig Jahren einem neuen Ruf gefolgt, das Heilige Land vor den Sarazenern zu retten, und hatte sich in die großen Abenteuer der Kreuzzüge gestürzt.
Auch in London war dieser Eifer spürbar. In der Stadt häuften sich neue Kirchen und andere Stiftungen. Am Themseufer in der Nähe von Aldwych errichteten die Templer ein riesiges Hauptquartier. In der Nähe der Westminsterabtei gab es ein neues Krankenhaus, das St. James gewidmet war. Mehr als ein Fünftel der Londoner Bevölkerung hatte religiöse Weihen unterschiedlicher Art empfangen.
Als Michael mit Siebzehn den Wunsch äußerte, Mönch zu werden, war sein Vater zwar enttäuscht, jedoch nicht wirklich entsetzt gewesen. Da sein Sohn sich nicht von seiner Berufung abbringen ließ, verschaffte er ihm einen Platz in der aristokratischen Gemeinde der Benediktinermönche in der großen Westminsterabtei, der er eine stattliche Spende zukommen ließ, und bemerkte hoffnungsvoll: »Der Palast des Königs befindet sich gleich neben der Abtei. Auch Mönche können großartige Laufbahnen einschlagen.«
Und so hatte Michael in der alten königlichen Abtei von Westminster zehn glückliche Jahre verbracht. Er liebte die graue Abtei, die große Halle, die Stimmung, die diese so nahe beieinander liegenden Gebäude – das Kloster, die königliche Kapelle und die Innenhöfe der
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