London
bislang in der nördlichen Welt unbekannt waren. Der vollkommene Ritter war ein Kämpfer, ein Pilger und ein Minnesänger. Er betete zur Heiligen Jungfrau, doch sein heiliger Gral war die edle Dame in ihrem Gemach. Er kämpfte auf den Turnieren, doch er sang auch Balladen. Er war religiös, galant, erotisch. Das Zeitalter der Ritterlichkeit dämmerte heran und kam in den Geschichten des legendären König Artus und der Ritter seiner Tafelrunde, die nun zum erstenmal aus dem Lateinischen und Französischen ins Englische übersetzt wurden, zum vollsten Ausdruck. Richard Löwenherz war der Held dieses neuen Zeitalters.
Er war auf dem kultivierten Hof seiner Mutter in Aquitanien aufgewachsen und konnte Gedichte und Balladen schreiben. Er liebte die Turniere und war ein furchterregender Krieger, Belagerungsexperte und Burgenbauer. Selbst diejenigen, die ihm sehr nahestanden, die wußten, daß er auch eitel und grausam war, mußten zugeben, daß er neben seiner Gabe des Herrschens auch über unvergleichlichen Stil und Charme verfügte. Nun hatte er die Bitten der Templer und anderer erhört, die sich tapfer gegen die Sarazenen im Heiligen Land behaupteten, und wollte sich auf das geheiligteste aller ritterlichen Abenteuer, den Kreuzzug, begeben.
Der Kreuzzug sollte sogar die alte Eifersucht zwischen dem König von Frankreich und den Plantagenets beschwichtigen. Der König von Frankreich und Richard sollten gemeinsam – wie Brüder – in den Kampf ziehen. Und die Expedition des Königs hatte auch etwas Mystisches; angeblich nahm er das uralte Schwert König Artus', das magische Excalibur, mit auf seine Reise.
Der alte König hatte in seinen letzten Jahren nur wenig Freude gehabt. Die Empörung über Beckets Tod war immer heftiger geworden, bis schließlich Heinrich öffentlich am Grab Thomas Beckets in Canterbury Buße tat. Becket war zum Heiligen ausgerufen worden. Dann war Heinrichs geliebte Mätresse, die holde Rosamunde, gestorben. Seine Frau und die Kinder hatten sich gegen ihn gewandt; zwei seiner Söhne einschließlich seines geplanten Nachfolgers waren gestorben. Doch nun war der heldenhafte Richard zu seiner Krönung nach England gekommen.
Ganz London nahm teil an diesem aufregenden Ereignis. David sah auf der Themse eine Flotte von seetüchtigen Schiffen, die eine Gruppe abenteuerlustiger Londoner – keine Adlige, sondern Söhne von Kaufmannsfamilien wie seiner eigenen – auf den Kreuzzug des Königs mitnehmen sollte.
Nun öffneten sich die Tore der Kirche. Jubel hob an, als eine große, ansehnliche Gestalt in einem blaugoldenen Umhang, begleitet von sechs Rittern, in das Sonnenlicht hinaustrat. Mit festem Schritt ging er zu seinem Pferd, schwang sich behende in den Sattel und ritt auf das Stadttor zu. Auf seinem Weg ließ Richard Löwenherz noch einmal den Blick über die kleine Menge schweifen. Er sah den Jungen, blickte ihm direkt in die Augen und lächelte. Er wußte genau, daß er durch diese simple Geste den Jungen unwiderruflich gewonnen hatte. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und ritt nach Westminster davon.
David Bull blickte ihm nach und murmelte: »Ich werde mit ihm gehen. Ich muß auf den Kreuzzug.« Dann dachte er an den schrecklichen Wutausbruch, den dieses Vorhaben bei seinem Vater auslösen würde; doch sein Onkel Michael würde ihm schon helfen. Er würde mit dem Vater reden.
An eben diesem Tag führte ein langnasiger Mann auf einem Schecken eine elegant gekleidete Dame auf ihrem Zelter und zwei Packpferde über die Brücke in die Stadt hinein. Der Mann war Pentecost Silversleeves. Die Dame war Ida, die Witwe eines Ritters, und auch wenn sie sich tapfer bemüht hatte, es nicht zu tun, hatte sie doch eben zu weinen begonnen; sie sollte nämlich verkauft werden.
Während sie auf die vor ihr liegende Stadt blickte, kam es Ida vor, als habe sich die ganze Welt in Stein verwandelt. Zu ihrer Linken sah sie die dicken Mauern der Festung am Ludgate, zu ihrer Rechten die graue Masse des Towers. Über den beiden niedrigen Hügeln von London, die mit Häusern übersät waren, thronten die hohen, schmalen Turme von St. Paul's. Selbst am Wasser neben ihr hatte man begonnen, massive Fundamente für eine neue Brücke zu bauen, die sicherlich ebenfalls aus Stein sein würde. Und dann erklangen die Kirchenglocken, feierlich, gedämpft, als ob sie ebenfalls aus Stein wären.
Ida war dreiunddreißig. Unter ihrer steifen Kopfbedeckung war ihr dunkles Haar straff zurückgekämmt und mit einem Tuch
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