Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
begleichen, ob nun mit dem Vater oder dem Sohn, war ihm egal. Und da der Sohn noch so jung war, hatte er genügend Zeit, sich etwas Passendes einfallen zu lassen.
    Bei seiner Ankunft im Haus von Bull wirkte der Kaufmann sehr ernst. Nachdem er Silversleeves für seine Hilfe bei der Angelegenheit mit den Reusen gedankt hatte, legte er eine Hand auf seinen Arm und meinte: »Ich glaube, es gibt da eine Neuigkeit, die Ihr wissen solltet.« Silversleeves erbleichte.
    Im Mai tauchte ein Fremder im Haus der Bulls auf – ein Ritter, Gilbert de Godefroi. Sein Landgut, Avonsford, lag in der Nähe der Burg von Sarum im Westen Englands. Bull gewährte ihm Unterkunft; einfache Pilger logierten in Hospizen, doch ein reisender Ritter wohnte normalerweise bei einem Kaufmann. Als Godefroi mit einem Brief von einem Kaufmann aus dem Westen auftauchte, den Bull kannte, bot der Alderman ihm selbstverständlich seine Gastfreundschaft an.
    Gilbert de Godefroi hielt sich in London auf, um seine geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln, bevor er sich zum Kreuzzug aufmachte. Der großgewachsene Ritter war ein Witwer mittleren Alters mit einem traurigen, strengen Gesicht. Man sah nicht viel von ihm, denn er stand immer schon im ersten Morgengrauen auf, begab sich zur Frühmette nach St. Paul's und ritt dann mit seinen Pferden in den Wäldern von Islington aus. Nach einer kargen Abendmahlzeit zog er sich meist bald zurück. Auf seinem Umhang befand sich ein rotes Kreuz, das Zeichen, daß er ein Kreuzfahrer war.
    Godefroi weilte seit vier Tagen bei der Familie, als Bruder Michael ihn bei dem wöchentlich stattfindenden Familienmahl kennenlernte. Er war beeindruckt von dem würdigen Gebaren des Ritters. David starrte ihn ehrfürchtig an, und selbst Bull war ruhiger als sonst. Ida zollte dem Ritter die ihm gebührende Aufmerksamkeit; er war ja schließlich ihr Gast. Sie bediente ihn als ersten, wie es die Höflichkeit erforderte, und verständlicherweise trug sie das kostbare Gewand einer Lady. Aber Ida war tatsächlich verändert. Seit der Ritter aufgetaucht war, bemühte sie sich um seine Aufmerksamkeit. Sie hatte ihn sofort wissen lassen, wer sie eigentlich war und wie gering sie hier geschätzt wurde. Sie hatte ihm ihre Vorfahren aufgezählt in der Hoffnung auf ein gemeinsames Bindeglied. Sie hatte sogar versucht, sich ihm bei seinen Gebeten anzuschließen. All dies beobachtete Bull schweigend. Auch Bruder Michael fiel es auf, und außerdem bemerkte er, daß David richtig verliebt in den Ritter war. Tag für Tag verfolgte der Junge den strengen Ritter. Er sah Godefroi zu, wenn dieser mit Schwert und Keule trainierte; er half dem Knappen, einem jungen Burschen, der nur wenig älter war als er selbst, wenn dieser die Rüstung des Ritters pflegte, um sie vor Rost zu schützen. Auch der Schild des Ritters, auf dem ein weißer Schwan vor einem roten Hintergrund abgebildet war, faszinierte David. In den letzten paar Jahrzehnten war es üblich geworden, daß ein Ritter sich bei den Turnieren mit einem persönlichen Wappen schmückte. Für David war es ein weiterer Beweis dafür, daß Godefroi ein Held war.
    Als der Ritter eines Morgens, beobachtet von David, Bruder Michael und Ida, davongaloppierte, sagte der Junge zu seiner Stiefmutter: »Ich wünschte, mein Vater wäre so wie er.«
    Ida lachte. »Sei nicht töricht! Sieh dir doch deinen Vater an! Man erkennt sofort, daß er nur ein Kaufmann ist. Ein Adliger wird als solcher geboren, nicht dazu gemacht.« Und dann fügte sie zu seinem Trost hinzu: »Ich werde eine adlige Frau für dich finden. Vielleicht wird dein Sohn ja ein Ritter.«
    Da erkannte David, daß sein mächtiger Vater nicht nur die falsche Einstellung hatte, nicht nur eine niedrigere Stellung einnahm als der feudale Ritter, sondern daß Gott ihn tatsächlich so geschaffen hatte. Dies hatte er bislang nicht gewußt.
    Aber es stimmte. Die normannische Herrschaft und die der Plantagenets hatten in der englischen Gesellschaft eine enorme Veränderung hervorgerufen, von der nur London verschont geblieben war. Der angelsächsische Edelmann war stolz auf seine kämpferischen Ahnen gewesen, aber sein Stand hatte sich vor allem auf seinen Reichtum gestützt. Wenn jemand genügend Land besaß, war er ein Edelmann, und die reichen Londoner Kaufleute wurden Thane. In Kriegszeiten hatten sie mit den Leuten, die ansonsten ihre Felder bearbeiteten, ein Aufgebot an Streitkräften erstellt. Doch die normannischen Neuankömmlinge, die an die Stelle des

Weitere Kostenlose Bücher