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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ein hübscher kleiner Bau, eingezwängt zwischen einer Seilerei und einer Bäckerei. Am Fuß des Hügels standen die Lagerhäuser der normannischen Weinhändler. Die Kirche war aus Stein und hatte ein Holzdach. Gut hundert Gemeindemitglieder hätten in ihr Platz gehabt, wenn sich denn jemals so viele versammelt hätten. An einem schönen Septembermorgen stattete Schwester Mabel dem Kustos dieser bescheidenen Kirche einen Besuch ab.
    Der Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves war ein armer, kränkelnder Kerl mit einer Frau und zwei Kindern. Theoretisch war die Frau, mit der er zusammenlebte, natürlich nicht seine Ehefrau, sondern seine Konkubine, da er ja dem geistlichen Stand angehörte, aber selbst unter den strengsten Kirchgängern bezeichneten nur wenige sein moralisches Vergehen als schlimm. Die meisten Londoner Kirchendiener waren verheiratet; ohne Frau wären sie wahrscheinlich verhungert.
    Die Situation in St.-Lawrence-Silversleeves war typisch. Die Familie Silversleeves ernannte den Vikar, der aus dieser Stellung sein Einkommen bezog. Wenn es in der Familie niemanden gab, der diesen Posten haben wollte, wurde er an einen Freund oder Bekannten vergeben. Der Berufene war auch noch Vikar an mehreren anderen Kirchen und bezog auch daraus Einkünfte. Zur Ausübung der Pflichten an all diesen Kirchen ernannte er einen Kustos, dem er einen derart kümmerlichen Lohn bezahlte, daß der arme Kerl, wenn er keine Frau hatte, die für beider Unterhalt aufkam, kaum das Holz für sein Herdfeuer kaufen konnte.
    Der Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves war fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte schütteres, graues Haar und litt unter gelegentlichen Schwindelanfällen. Seine Frau arbeitete in der danebenliegenden Bäckerei. Sie war etwas robuster als er, litt jedoch unter Krampfadern. Die beiden lebten mit ihren zwei bleichen Töchtern in einer winzigen Hütte hinter der Kirche.
    Schwester Mabel besuchte sie, so oft sie konnte. Heute war sie mit einem Trank aus wildem Lattich gegen die schwindende Sehkraft des Mannes und Zehrkraut gegen seine Schwindelanfälle gekommen. Sie hatte auch Wacholder für die geschwollenen Beine der Frau mitgebracht und Weizenbrot, weil die Kinder Würmer hatten. Als sie die Hütte wieder verließ, hatte sie nur einen einzigen Gedanken: Der elende Silversleeves mußte unbedingt etwas für diese armen Leute tun.
    Sie ging geradewegs zu seinem Haus, aber er war nicht da. Also trat sie ihren Heimweg Richtung Smithfield an. Als sie an der großen, offenen Fläche ankam, sah sie Silversleeves an der Pforte zu St. Bartholomew's stehen und mit Bruder Michael reden. Sie eilte zu den beiden hinüber, doch plötzlich ließ sie etwas innehalten. Hinter den beiden Männern stand eine seltsame, grünweiße Gestalt mit einem vogelartigen Gesicht, einem geschwungenen Schwanz und einem Dreizack in den Händen. Es war der Dämon, mit dem sie vor vielen Jahren während einer Vision gesprochen hatte. Sein Gesicht mit dem Schnabel wirkte hämisch und schadenfroh. Er ist gekommen, um Silversleeves zu holen, dachte sie ohne Bedauern. Doch dann sah sie zu ihrem Entsetzen, daß der Dämon Silversleeves nicht weiter beachtete, sondern seine langen Arme um den heiligen Bruder Michael legte. Und dieser merkte überhaupt nichts davon.
    Als die sieben Aldermen sich kurz nach Michaeli in diesem Jahr wieder trafen, waren sich alle einig, daß Sampson Bull ausgezeichnete Arbeit geleistet hatte.
    »Hervorragend, wie Ihr mit Silversleeves umgeht«, erklärte der Anführer. Und in der Tat hatte auch Bull das Gefühl, daß er Meisterhaftes vollbracht hatte. Nicht, daß er gelogen hatte. Kein Bull tat jemals so etwas. »Aber vielleicht habe ich ein wenig übertrieben«, gestand er. Und Pentecost hatte ihm bereitwilligst geglaubt.
    Als er dem Exchequer-Beamten in diesem Frühjahr erzählt hatte, daß Johanns Gesandte mit einigen der führenden Aldermen Londons ins Gespräch getreten seien, war Silversleeves' Furcht nur zu offensichtlich gewesen. Dabei stimmte es tatsächlich, daß ein paar geheime Gespräche stattgefunden hatten, aber Johann war noch nicht zuversichtlich genug, und auch die Aldermen waren noch nicht bereit, mehr als ein vages gemeinsames Interesse erkennen zu lassen. Doch indem Bull Pentecost in dem Glauben beließ, daß bereits eine Verschwörung im Gang sei, nötigte er ihn zum Handeln.
    »Angesichts diesen monströsen Steuern«, hatte er Pentecost gewarnt, »wird die Stadt auf jeden Fall Johann unterstützen, wenn

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