London
David Bull vorbeizuschauen. Als sie in die Halle hineinstapfte, saßen die drei zusammen in der Nähe des Fensters, und in diesem Moment ging ihr die Wahrheit auf.
Diesmal war kein Dämon da, nur drei sehr menschliche Gestalten. Der Junge saß vor einem aufgeschlagenen Buch am Tisch. Bruder Michael saß neben ihm und erklärte ihm einen schwierigen lateinischen Satz. Ida saß auf der gegenüberliegenden Seite und blickte ihn bewundernd an. Entsetzt erkannte Mabel, daß vor ihren Augen eine widernatürliche Liebe wuchs.
Sie verabreichte David die Medizin, die sie ihm mitgebracht hatte, und verabschiedete sich rasch. Als sie an diesem Abend den Mönch im Kloster traf, sagte sie ihm ohne Umschweife: »Hüte dich vor einer widernatürlichen Liebe, Bruder Michael!«
Michael wurde nur selten böse, doch nun stand er kurz davor. Dann wurde ihm klar, daß Mabel wohl eifersüchtig war, aber was nützte es schon, ihr dies geradewegs zu sagen? Was seine Gefühle zu Ida betraf, fühlte er sich zuversichtlich. »Wir müssen alle auf der Hut sein«, wies er sie sanft zurecht. »Ich versichere dir, daß ich es bin. Bitte sage mir so etwas nicht noch einmal!«
Juni 1191
Prinz Johann hatte gute Arbeit geleistet. Anfang dieses Jahres gab es wohl kaum noch einen Baron in England, der nicht einen Groll gegen den Kanzler hegte und nicht Johanns Freund geworden war. Und dann, im Frühling, wurde Johann aktiv.
Zuerst hatte er eine der Burgen im Süden als persönliches Eigentum beansprucht. Dann hatte ein wichtiger Sheriff im Norden dem Kanzler seinen Gehorsam verweigert. Im März kam ein Bote mit noch schlimmeren Nachrichten nach London: »Johann hat die Burg in Nottingham eingenommen.« Diese Burg war eine der stärksten Festungen in Mittelengland. Johann zog im Königreich umher und holte sich überall in den Grafschaften Unterstützung. Einer der Barone stellte eine gefährliche Streitmacht an den Grenzen zu Wales auf. In der Stadt fragte man sich nur noch zwei Dinge: Wird der Kanzler den Bruder des Königs bezwingen? Wird Johann tatsächlich London angreifen?
Silversleeves starrte auf die Szene, die sich da vor ihm abspielte. Vor dem Tower errichtete ein kleines Aufgebot an Männern hastig einen neuen Wall. Sie gruben auch einen großen Graben aus. Mutlos beobachtete Pentecost diese Bautätigkeiten. Longchamp mochte ein begabter Verwalter sein, aber er war kein Burgenbauer. Der Aushub für den Wall war viel zu niedrig, die Mauern nicht stark genug, um einem richtigen Angriff standzuhalten. Der Graben sollte ein Wassergraben werden, aber momentan enthielt er kaum mehr als eine kleine Schlammpfütze. Erst vor einer Woche hatte es im East Cheap einen kleinen Aufstand gegeben. Er war zwar mühelos niedergeschlagen worden, doch Pentecost hegte den Verdacht, daß Johanns Männer ihn angefacht hatten.
Würde London dem Kanzler die Treue halten? Er hatte den Londonern alles gegeben, was sie von ihm gefordert hatten. Aber er war einfach schrecklich ungeschickt. Im vorigen Monat hatte er bei seinen hastigen Arbeiten am Tower den Obstgarten eines Alderman zerstört. Dennoch hatte Bull ihm versichert, daß London dem König die Treue halten würde, egal, ob man Longchamp nun mochte oder nicht.
Aber wo war König Richard nun? War er überhaupt noch am Leben? Niemand konnte diese Fragen beantworten.
Bruder Michael war glücklich, denn David ging es wieder besser. Inzwischen unternahmen er und Ida oft einen kleinen Spaziergang mit dem Jungen. Anfangs hatte David immer nur wenige Schritte geschafft, aber Ende März schritten er und der drahtige Mönch so wacker aus, daß Ida ihnen lachend erklärte, daß sie mit ihnen nicht mehr Schritt halten konnte.
An einem warmen Tag Ende April kamen sie nach Aldwych, wo ein paar mutige Knaben in die Themse sprangen. Zur Überraschung seines Onkels rannte David zu ihnen hinunter, entledigte sich seiner Kleider und sprang ebenfalls in den Fluß. Bruder Michael wollte ihn zurückhalten, konnte sich jedoch auch nicht der Freude erwehren bei dem Anblick seines nun wieder erstarkten, gesundeten Körpers. Doch aus Angst vor einer neuen Erkältung beeilte sich der Mönch, den Jungen trockenzurubbeln, und legte auf dem Heimweg einen Arm um ihn, um ihn zu wärmen.
Obwohl er nun meist wieder recht munter war, war David auch oft nachdenklich. Er betete gern mit dem Mönch und stellte ihm immer wieder Fragen zur Religion. Als Ida und Bull sich im Mai nach Bocton begaben, blieb David in London unter der Obhut
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