London
der hier tätigen Schreiber hätte es gewagt, so etwas in den Unterlagen liegen zu lassen, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, daß der Kanzler dem Untergang geweiht war. Am allerschlimmsten für Silversleeves war es, daß am Rand neben dem Großbuchstaben noch eine weitere Karikatur zu sehen war, ein Hund, den der Kanzler an der Leine führte. Das Gesicht des Hundes mit seinem gierigen, sabbernden Maul und seiner langen Nase war ebenfalls nicht zu verkennen. Es war er selbst.
Also dachten sie hier, daß auch er dem Untergang geweiht war. Wenn sie recht hatten, sollte er seinen Patron sofort verlassen. Schnell überdachte er noch einmal die gesamten Aktionen des Kanzlers. Gab es unbekannte Verbrechen, deren er seinen Herrn bezichtigen konnte, wenn er zu Longchamps Feinden überlief? Gab es welche, in die er nicht selbst verwickelt gewesen war? Nur zwei oder drei, doch im Notfall würde es schon reichen. Wenn Longchamp andererseits diese Krise überstand und er ihn im Stich gelassen hatte, würde ihn dies sämtliche Hoffnungen auf zukünftige Vorteile kosten. Mehrere quälende Minuten lang überdachte er seine Zukunft. Dann zog er sein Messer heraus, schnitt die beleidigende Ecke des Pergaments ab und verließ den Raum. Am Abend war er unterwegs nach London.
Am siebten Oktober verbrachte Ida eine ruhige Mittagsstunde im Haus unter dem Hauszeichen des Bullen. Nach den Aufregungen der letzten beiden Tage war sie sehr froh darüber.
Am Vortag war Longchamp mit einer Truppe von Leuten aus Windsor nach London gekommen. Nun war er im Tower und sicherte die Befestigungsanlagen. Heute morgen hatte sich die Nachricht verbreitet, daß sich der Rat, Prinz Johann, seine Ritter und viele bewaffnete Männer der Stadt näherten. »Sie wollen den Kanzler absetzen«, berichtete der Bote.
Aber das war vielleicht gar nicht so einfach. Wenn die Stadt Richard die Treue hielt und die Tore schloß, würde der Rat nicht viel ausrichten können. Vor zwei Stunden war Bull zu einer Versammlung aller Aldermen und der Großen der Stadt gegangen, auf der man die Haltung dem Rat gegenüber besprechen wollte, und nun wartete Ida ungeduldig auf ihren Beschluß. Als sie jemanden im Hof hörte, dachte sie, es sei ihr Mann, doch zu ihrer Überraschung tauchte Silversleeves auf.
Bull ging währenddessen frohgemut mit großen Schritten an St. Paul's vorbei. Alles war wunschgemäß gelaufen.
Die Versammlung der Aldermen hatte in einem Saal hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Mehrere Vorgehensweisen wurden vorgeschlagen. Aber die Siebenergruppe hatte sich gut darauf vorbereitet. Die monatelange diskrete Beeinflussung der Meinungen ihrer Kollegen trug nun endlich Früchte. Schließlich war man übereingekommen, ihr alles anzuvertrauen, und in eben diesem Moment schlich sich ein Bote leise durch das Ludgate aus der Stadt hinaus. Außerdem war man sich einig, daß es für den Erfolg der Strategie der Sieben unerläßlich war, über das Treffen strengstes Stillschweigen zu wahren.
Zu seiner Überraschung fand er bei seiner Heimkehr Silversleeves vor, der auf ihn gewartet hatte. Der Mann tat ihm schon fast leid, so gehetzt wirkte er. Nun rannte er auf den Kaufmann zu und flehte ihn um Neuigkeiten an.
Der Kaufmann überlegte rasch. »Ihr seid zu Longchamp unterwegs?« fragte er. Silversleeves nickte. »Dann sagt ihm, daß London loyal ist.«
Sogleich machte sich ein erleichterter Silversleeves auf seinen Weg in den Tower, während Bull sich überlegte, ob er eben gelogen hatte. Aber nein, ein Bull log nie. »Ich habe ja nur gesagt, daß London loyal ist«, murmelte er laut vor sich hin. Er hatte nicht gesagt, wem diese Loyalität galt.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit sah David Bull, der den ganzen Nachmittag lang vom Ludgate aus nach Zeichen der heranrückenden Streitkräfte Ausschau gehalten hatte, eine sonderbare kleine Prozession. Wer waren diese zwanzig vermummten Reiter, die von Männern mit Fackeln und Laternen durch die stillen Straßen der Stadt geführt wurden? David folgte ihnen neugierig auf ihrem Weg den Hang zum Walbrook hinunter. Am London Stone hielt die Gruppe an. Drei Reiter ritten einen Weg gegenüber des Steines hinauf, einige andere stiegen von ihren Pferden. David schlich sich noch ein wenig näher an sie heran. Er bemerkte eine große Gestalt mit einer Laterne, die sich von der Gruppe entfernte und in eine dunkle Gasse einbiegen wollte. David rannte ihr nach, berührte sie am Arm und fragte leise: »Sir, könnt Ihr
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