London
mehreren Generationen war die Familie aus dem alten Haus der Silversleeves unterhalb von St. Paul's weggezogen. Vor kurzem war seine verwitwete Mutter gestorben. »Aber ich bin ehrgeizig«, gestand der junge Mann. Beide Männer wußten, daß nicht nur die Kirche den Weg zur Macht ermöglichte, sondern auch das Studium der Rechtswissenschaften und ein Beruf in diesem Bereich. Viele junge Männer zogen den Ehestand dem Zölibat vor, und inzwischen waren Juristen Seite an Seite mit Bischöfen in den höchsten Ämtern tätig. »Ich bete Eure Tochter an«, gestand er Tiffanys Mutter immer wieder. »Sollte ich jemals in ihren Augen Gnade finden, so würde ich mich Tag und Nacht darum bemühen, sie glücklich zu machen.«
Bull gegenüber bemerkte er eines Tages: »Ich bewundere Eure Großzügigkeit, Sir, daß Ihr Eurer Tochter die Wahl überlaßt. Aber offengestanden würde ich mich nicht wohl dabei fühlen zu versuchen, mich bei Tiffany beliebt zu machen, wenn ich nicht Euren Segen dazu hätte.«
Tiffany gegenüber erwies er sich als angenehmer Begleiter. Er konnte über jedes Thema sprechen. Er war sehr unterhaltsam, und wenn er mit ihrem Vater sprach, sah sie, daß Bull seine Meinung sehr schätzte. Dennoch fehlte ihr etwas. Wenn sie romantische Geschichten über Ritter las, die aus Liebe zu einer Dame ihr Leben ließen, durchlief sie immer ein Schauder der Erregung, doch sie wußte nicht, ob diese Empfindung zum Erwachsensein gehörte oder einfach nur kindisch war. Einmal fragte sie ihre Mutter, nachdem sie ihr von einer dieser Geschichten erzählt hatte: »Gibt es denn tatsächlich solche Männer?«
»Hast du jemals so einen Mann getroffen?« fragte ihre Mutter im Gegenzug.
»Nein.«
»Dann darfst du auch nicht allzu enttäuscht sein, wenn du es niemals tun wirst.«
»Dann will ich aber mit dem Heiraten warten, bis ich mindestens fünfzehn bin«, beschloß Tiffany.
Als Ducket im Frühling 1379 über sein Leben nachdachte, machte ihm nur eines richtig Sorgen: Er hatte noch nie eine Frau gehabt, obwohl er nun schon siebzehn war. Er hatte zwar schon öfter eine geküßt und beim Ringen oder Boxen anderen Lehrlingen gegenüber seine Männlichkeit bewiesen, aber wenn seine Freunde zu den Bordellen an der Bankside gingen, fand er immer eine Entschuldigung. Die Schäbigkeit dieser Orte und das Risiko, sich eine Krankheit zuzuziehen, schreckten ihn ab. Manchmal bemerkte er, daß Frauen ihn wohlwollend betrachteten, denn er war gesund und wohlgestaltet, aber er wußte einfach nicht, wie er sich einer Frau nähern sollte.
Dieses Problem konnte er weder mit Fleming noch mit Bull, ja nicht einmal mit seinem Paten Chaucer besprechen. Eines Tages, Anfang April, bat er Whittington, den er zufällig auf dem Cheap getroffen hatte, um Rat.
»Vielleicht kann ich dir helfen«, meinte dieser. »Gib mir ein bis zwei Wochen Zeit.«
Zehn Tage später bestellte Whittington seinen jungen Freund in eine Schenke hinter St. Mary-le-Bow. »Bist du bereit?« fragte er. Dann geleitete er Ducket in den Hinterhof. Von dort aus führte eine kleine Holztreppe zu einer Kammer über der Schenke. Durch den Türspalt drang schwaches Licht nach draußen. »Dort oben, lieber Ducket, ist die Pforte zum Paradies!« sagte Whittington. Ohne ein weiteres Wort schlenderte er davon.
Nun war es also soweit. Würde er wissen, was er zu tun hatte? Würde ihn seine Männlichkeit im Stich lassen? Ducket erklomm mit pochendem Herzen langsam die Stufen. Dann öffnete er die Tür zur Kammer.
Der Raum wirkte recht angenehm. Auf dem Boden lag ein dicker Strohteppich, rechts stand eine Eichentruhe, die im sanften Licht einer auf ihr stehenden Laterne schimmerte. Links gab es ein Fenster, doch die Fensterläden waren geschlossen. In der Mitte stand ein vierpfostiges Bett, darauf hoch aufgeschichtet eine Matratze und eine dicke Decke. Und obendrauf lag eine nackte, schlanke, blasse Gestalt, deren dunkles Haar ihr lose auf die Schultern fiel und die Ducket nicht ganz unbekannt war. Es war Schwester Olive, Silversleeves' Cousine, die langnasige Nonne von St. Helen's, die er einmal im Haus auf der Brücke gesehen hatte.
Whittington erzählte es Bull und noch mehreren anderen Leuten. Er konnte sich einfach nicht zurückhalten, und zwar nicht, weil er Schwester Olive damit schaden wollte, sondern um ihrem Cousin Silversleeves eins auszuwischen.
Bull war außer sich. »Diese Nonne sollte aus ihrem Konvent vertrieben werden!« schrie er. »Und Ducket werde ich an den
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