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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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wurde vermißt.
    Ob Fleming wohl versuchen würde, Amy zu verbergen? fragte sich der Junge. Den Lehrling zu verstecken, war es zu spät. Wieviel würde wohl von ihm gefordert werden? Zwar mußten die ärmsten Bauern nicht mehr als einen Groat – etwa den Lohn für einen oder zwei Tage – bezahlen, doch von vielen Londoner Kaufleuten wurde ein Pfund oder mehr verlangt. Eines jedoch hatte er überhaupt nicht erwartet: Ein sehr blasser Fleming gestand nach langem Zögern, daß er nicht bezahlen könne, denn er habe kein Geld. Als die Steuereintreiber lachten und sagten, er solle sich doch eine bessere Geschichte ausdenken, ging der Grocer zu seinem Geldversteck im Lager und kehrte mit einer halben Mark zurück. Ducket merkte gleich, daß sein Meister die Wahrheit sagte; er war tatsächlich pleite.
    »Aber warum?« Dame Barnikel war zu besorgt, um richtig wütend zu werden. Sie hatte die Kopfsteuer bezahlt, die sich auf zwei Mark belaufen hatte, und nun betrachtete sie in der Abgeschlossenheit ihres Schlafzimmers Fleming mit einem Ausdruck der Verwunderung. »Du hattest doch Ersparnisse, oder?«
    »Ja«, sagte er geistesabwesend. »Ja, ich dachte, daß es mehr war.«
    »Meinst du, in deinem Geldversteck?«
    »Ja. Natürlich. Ich kann es nicht verstehen«, sagte er stockend.
    »Hat vielleicht jemand das Geld gestohlen? Wer weiß, wo du dein Geld aufbewahrst?«
    »Niemand außer mir und dir. Und Ducket. Aber gestohlen hat es wohl niemand.«
    »Und warum ist dann nichts mehr da?« wollte sie wissen. Aber ihr Mann gab ihr keine Antwort.
    Zwei Tage später zog Bull Tiffany ins Vertrauen. »Dame Barnikel hat bei mir vorgesprochen. Sie hat mich gefragt, ob ich jemals den Verdacht hegte, daß der junge Ducket ein Dieb sein könnte.« Er blickte seine Tochter ernst an. »Ich weiß, daß du ihn früher sehr nett fandest, aber ich bitte dich dennoch, diese Frage gründlich zu überdenken. Fällt dir irgend etwas ein, das er jemals gesagt oder getan hat, was auf derartige Neigungen hinweisen würde?«
    Sie dachte nach. »Nein, Vater, da fällt mir nichts ein.«
    »Dame Barnikel glaubt, daß es zu einem Diebstahl gekommen ist und daß Fleming den Jungen vielleicht decken will. Aber sprich bitte mit niemandem über diese Sache, vor allem nicht mit Ducket. Dame Barnikel will ihn im Auge behalten. Wir können nur hoffen, daß er unschuldig ist. Bei einem Findelkind kann man nie wissen, welche schlechten Anlagen es in sich trägt.«
    Bull erwähnte die Angelegenheit nur einem einzigen anderen Menschen gegenüber, Silversleeves. Er vertraute auf die Diskretion des jungen Mannes, aber er dachte sich auch, daß Silversleeves vielleicht etwas einfallen könnte, wenn es denn Gerüchte über den Lehrling gab, zumal Ducket den Juristen ziemlich bloßgestellt hatte. Silversleeves' Antwort sprach in Bulls Augen sehr für den jungen Juristen.
    »Ich habe keinen Grund, den Burschen zu mögen, Sir«, sagte er, »aber ich habe nie etwas Schlechtes über ihn gehört. Er mag ein ziemlicher Draufgänger sein, aber ich glaube, er ist ehrlich.«
    Im Frühjahr 1380 bemerkte Amy, daß Ben Carpenter etwas beunruhigte. Anfangs wollte er nicht recht mit ihr darüber sprechen, doch schließlich tat er es doch. Carpenter machte sich Sorgen wegen Gott. Diese Sorge war nicht ungewöhnlich. In den letzten Jahren beschäftigten sich viele Leute mit religiösen Fragen, nicht nur in den Kirchen und Klöstern, sondern auch auf den Straßen und in den Wirtshäusern Londons. Der Auslöser dafür war ein Gelehrter mittleren Alters, der an der noch sehr kleinen Universität Oxford tätig war. Sein Name war John Wyclif.
    Anfangs waren Wyclifs Ansichten nicht so umstritten. Er klagte über korrupte Priester, was sämtliche Kirchenreformer seit Jahrhunderten taten. Aber dann entwickelte er gefährlichere Lehren. »Sämtliche Autorität«, stellte er fest, »entstammt der Gnade Gottes, nicht dem Menschen. Wenn schlechte Könige von der Kirche abgesetzt werden können, warum dann nicht auch korrupte Bischöfe oder sogar Päpste? Ich kann es nicht hinnehmen, daß das Wunder der Messe von unreinen Priestern gefeiert wird.«
    Dies war schockierend genug, doch richtig erbost war die Kirche über eine andere seiner Folgerungen. »Es kann nicht angehen«, beschloß er, »daß ausschließlich Priester, die oft genug sündig sind, die Heilige Schrift für die Gläubigen auslegen. Hat Gott denn nicht die Macht, direkt zu jedem Menschen zu sprechen? Warum sollen die Leute die Schrift

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