London
nicht selbst lesen?«
Damit würde er nie durchkommen. Die katholische Kirche hatte sich immer das Recht vorbehalten, daß nur ihre Priester das Wort Gottes ihren Schäflein vermitteln durften. Außerdem war die Bibel in Lateinisch verfaßt und deshalb unverständlich für die gewöhnlichen Leute. Doch eben darauf hatte Wyclif die empörendste Antwort: »Dann werde ich sie eben in die englische Sprache übersetzen.«
Bei den Londonern war Wyclif recht beliebt, und das war auch nicht überraschend. Die Kirche hatte die Welt des Mittelalters jahrhundertelang geprägt, doch nie zuvor war ihre Präsenz in der Stadt so auffällig. Die dunkle alte St.-Paul'sKathedrale thronte über allem; in fast jeder Straße gab es eine Kirche, ganze Bereiche der Stadt wurden den riesigen, eingezäunten Klostern übertragen, Konvente und Hospitäler von diversen Orden und die prächtigen Häuser und Gärten von Äbten und Bischöfen schmückten die Vorstädte. Die meisten Menschen glaubten an Gott, an den Himmel und die Hölle. Gilden und einzelne Kaufleute stifteten Votivkapellen in den Kirchen, wo Messen für ihre Seelen gelesen wurden. Jeden Frühling trafen sich große Pilgergruppen in den Gaststätten in Southwark auf ihrem Weg zu Beckets Schrein in Canterbury.
Aber die Kirche war auch auf ihren Reichtum bedacht. Sie besaß ein Drittel Englands. Ständig sah man wohlbeleibte Blackfriars, und selbst die Greyfriars aus dem Franziskanerorden ließen es sich gutgehen und predigten zu wenig. Es gab Priester, die Ablässe verkauften; es gab skandalträchtige Nonnenstifte. In den letzten Jahren hatte sich die Kirche wieder einmal gespalten; zwei rivalisierende Päpste bezichtigten sich gegenseitig des Betrugs, bezeichneten den jeweilig anderen sogar als Antichrist. Wie jede mächtige Institution war die Kirche eine Zielscheibe der Kritik. Wyclif sprach den gesunden Menschenverstand der Londoner an. Von der Kirche wurde er zum Häretiker erklärt; Oxford zensierte ihn, aber mehr passierte nicht. Johann von Gent persönlich, dem es Spaß machte, die Bischöfe zu irritieren, versicherte dem Reformator seinen Schutz. Und so bereitete Wyclif, unterstützt von befreundeten Theologen, eine englische Bibel vor.
Duckets Leben verlief nach wie vor größtenteils sorgenfrei. Eine Weile genoß er die Freuden, die Schwester Olive zu spenden hatte, ohne daß der gesprächige Whittington davon erfahr. Mit gestärktem Selbstvertrauen schlief er bald mit mehreren anderen Frauen. Aber über manche Dinge zerbrach er sich den Kopf. Obwohl das Marktgeschäft sich wieder erholt hatte und Fleming munterer wirkte, verschwand er doch noch immer von Zeit zu Zeit. Bei einer solchen Gelegenheit fand Ducket ihn am nächsten Morgen mit blutunterlaufenen Augen und einem Verband an der Hand, an der er sich offenbar eine schlimme Verbrennung zugezogen hatte. Auch auf Dame Barnikels Verhalten konnte sich Ducket keinen rechten Reim machen. Amy war freundlich zu ihm, doch ihre Mutter schien auf einmal sehr zurückhaltend zu sein. Doch dies bereitete ihm kein allzu großes Kopfzerbrechen. In weniger als zwei Jahren würde seine Lehre beendet sein, und dann würde er ernste Entscheidungen fällen müssen. Bis dahin hatte er vor, es sich einfach gutgehen zu lassen.
In diesem Jahr fand ein weiterer verheerender Feldzug gegen Frankreich statt. Der Rat wählte den Erzbischof von Canterbury zum Kanzler, und dieser Mann beschloß zusammen mit dem Parlament, eine neue Kopfsteuer zu fordern, denn wieder galt es hohe Summen aufzubringen. Doch anstatt von den Ärmeren eine kleinere und von den Reichen eine hohe Summe zu fordern, entschied sich der Erzbischof, die Forderung einheitlich zu halten. Die Reichen mußten vergleichsweise wenig bezahlen, die Armen dreimal soviel wie zuvor, einen ganzen Schilling pro Kopf.
»Wir werden diesmal weniger bezahlen«, erklärte Dame Barnikel ihrem Haushalt, »weil es uns beim letztenmal so gutging, daß wir hoch veranschlagt wurden. Aber wißt Ihr, was dies für einen armen Bauern bedeutet? Ein Schilling für ihn, ein weiterer für seine Frau, noch einen für die fünfzehnjährige Tochter, die vielleicht noch bei ihnen lebt und ebenfalls als Erwachsene zählt. Alles in allem der Lohn von mehreren Wochen. Das kann doch nicht gutgehen!«
An einem Tag im Dezember 1380 – die Stadt war tief verschneit – ging Ducket gerade an der kleinen Kirche St. Magnus am Nordende der Brücke vorbei, als er Silversleeves und Tiffany auf sich zukommen sah. Die
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