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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Pranger stellen lassen!« Erst Chaucer, der später an diesem Tag bei ihm vorbeischaute, konnte ihn wieder beruhigen.
    »Es gibt Nonnen in dieser Stadt, die zutiefst fromm sind«, sagte er. »Aber es gibt auch, zum Beispiel in St. Helen's, Frauen, die sich eigentlich nicht zum religiösen Leben berufen fühlen, aber doch in einem Kloster leben, und zwar nur deshalb, weil sie von ihren Familien hineingesteckt worden sind. Wenn Schwester Olive schon nicht perfekt ist, so ist sie doch äußerst diskret. Whittington werde ich dafür, daß er sie bloßgestellt hat, die Ohren langziehen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Und Ducket – nun, der hat sich offenbar bestens amüsiert.«
    Ein paar Tage später bedachte Silversleeves Ducket, als er ihm zufällig über den Weg lief, mit einem bitterbösen Blick. Und die Sache wurde auch nicht besser, als er das nächste Mal bei Bull vorsprach. Der Kaufmann bemerkte mit verkniffenem Mund: »Es gibt in einer Stadt wie London schrecklich viele gemeine Gerüchte, mein Lieber. Ich persönlich gebe nicht viel darauf.«
    Im Frühling dieses Jahres passierte in England etwas noch nie Dagewesenes. Als der Regentschaftsrat des jungen Königs wieder einmal dringend Geld benötigte und sich wie üblich um Hilfe an die Stadt wandte, wurde die Bitte schlichtweg zurückgewiesen. »Wir haben eben ein Vermögen bezahlt, um unsere Kundschaft aus dem Königshaus zurückzubekommen«, erklärten die Londoner Bürger und boten dem Rat eine lächerliche Summe an. So mußte der Rat über neue Möglichkeiten nachdenken, und bei dem nächsten Sommerparlament fand man einen anderen Weg. »Eine Kopfsteuer«, erklärte Silversleeves Tiffany. »Jeder Erwachsene in England, ob Mann oder Frau, ob Edelmann oder Leibeigener, wird diese Steuer entrichten müssen.«
    Dies war wahrhaft: neu. Im England des Mittelalters war das Entrichten von Steuern bislang ein Privileg der Freien gewesen, die in der Gesellschaft eine Minderheit bildeten. Der Londoner Stadtbürger zahlte Steuern, sein armer Lehrling zahlte keine. Ein reicher Müller auf dem Land zahlte Steuern, wenn er ein Freier war, aber der einfache Leibeigene war nur verpflichtet, seinem Herrn die Dienstverpflichtungen abzugelten und der Kirche ein paar Pennies zu geben.
    Die Pestwellen hatten die Fundamente des alten Feudalsystems erschüttert. Aufgrund der extremen Verknappung von Arbeitskräften konnten Hörige sich nun als freie Arbeiter verdingen und ohne große Schwierigkeiten die Pacht für die Felder, die sie bestellten, erwerben. Zwar versuchte die Regierung mit Hilfe des verhaßten Statute of Labourers, diese Tendenz aufzuhalten und die Löhne einzufrieren, doch es gelang ihr nicht. Die alten Fesseln der Leibeigenschaft lösten sich auf; es gab immer mehr Freibauern, die Yeomen, und Lohnarbeiter. Doch selbst wenn die allgemeine Kopfsteuer tatsächlich eine Art Anerkennung dieser neuen Wirklichkeit war, wollte man sie nicht entrichten. »Es ist gegen die Gewohnheiten!« empörte man sich allerorten. Die reichsten Männer im Königreich sollten sehr hohe Summen zahlen. »Aber sogar die armen Bauern werden den Lohn von mehreren Arbeitstagen zahlen müssen«, erklärte Silversleeves.
    An einem frühen Sommermorgen tauchten die Steuereintreiber unerwartet im »George« auf, eben, als Ducket den Handkarren belud. Da Fleming zumindest offiziell der Haushaltsvorstand war, ging Ducket los, um ihn zu holen.
    Seit ihrer merkwürdigen nächtlichen Begegnung hatte Ducket den Eindruck, als sei sein Herr weniger geistesabwesend und heiterer als zuvor. Zwar blickte er manchmal sorgenvoll auf seinen Marktstand, aber dies war nur natürlich, denn die Geschäfte liefen nach wie vor ziemlich schlecht. Doch er hatte sich eine neue Gewohnheit zugelegt – in den letzten paar Monaten war er immer wieder einmal verschwunden. Dies kam etwa einmal alle zehn Tage vor, immer am Abend. Ducket dachte nicht weiter darüber nach; er ging davon aus, daß sein Meister jetzt, wo es wieder wärmer wurde, gern einen kleinen Abendspaziergang machte. Als er nun nach Fleming suchte, fragte er sich, ob sein Meister wohl einen Trick versuchen würde.
    Es gab eine bemerkenswert hohe Rate an Steuerhinterziehungen. Alte Jungfern, erwachsene Kinder, Lehrlinge und Diener verschwanden plötzlich auf geheimnisvolle Weise aus den Haushalten im ganzen Land. In manchen Gebieten verschwanden ganze Dörfer, wenn die örtlichen Steuereintreiber auftauchten. Etwa ein Drittel der englischen Bevölkerung

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