London
hin und schob die Schachteln beiseite. Dann stellte er auch noch die Lampe auf den Boden und starrte ungläubig unter das Bett. Die Tasche war weg.
Der Mann bewegte sich leise in der Dunkelheit. Hier am Südufer des Flusses gab es nicht viel Licht. Er hatte die Holzbrücke überquert und setzte nun seinen Weg nach Süden fort, an den Bädern vorbei, bevor er rechts in eine Gasse einbog und schließlich vor dem vertrauten kleinen Haus innehielt. Die Eingangstür, das wußte er, war verriegelt. Die Fensterläden waren ebenfalls zu. Er schlich in den Hinterhof.
Der Hund kam aus seiner Hütte und fing zu bellen an, verstummte jedoch rasch wieder, als er seinen Herrn erkannte. Die verhüllte Gestalt kletterte auf ein Wasserfaß, gelangte von dort aus auf die gekachelte Mauer an der Seite des Hofes und balancierte auf dieser bis zur Hausecke und zu einem im Dunkeln liegenden Fenster, dessen Holzladen offenstand. Der Kapitän kletterte leise in sein Haus und schlich zur Tür des Zimmers, in dem Martina schlief.
Er hegte bereits seit etwa einem Monat einen Verdacht. Etwas bei seiner jungen Frau war anders als sonst. Ein abwesender Blick, eine leichte Zurückhaltung, wenn er sich ihr näherte – bestimmt nicht viel, doch genug, um ihn mißtrauisch zu machen. Er glaubte zwar nicht, daß Martina ihn betrogen hatte. Noch nicht. Aber er wollte einfach sichergehen und hatte deshalb den ältesten Trick angewandt, den man als verheirateter Mann in so einer Lage anwenden konnte – so zu tun, als sei man weg, ohne tatsächlich weg zu sein.
Nun stieß er vorsichtig die Türe auf. Sie war allein. Das Mondlicht fiel auf ihr Bett. Eine ihrer Brüste war unbedeckt. Er sah sie an und lächelte zufrieden – sie betrog ihn nicht. Im Zimmer schien nichts auf die Anwesenheit eines anderen Menschen in diesem Haus hinzuweisen. Lautlos wie eine Katze schlich der stämmige Kapitän durch das Zimmer. Da bemerkte er ein Stück Papier auf dem Tisch in der Nähe des Bettes. Er hob es auf und ging damit zum Fenster.
Der Mond schien so hell, daß er den Brief lesen konnte. Die Unterschrift ließ zwar den Verfasser nicht erkennen, aber das war dem Kapitän egal. Er hatte eine Zeit und einen Ort. Er legte den Brief zurück und huschte wieder aus dem Haus.
Julius' Mutter hatte erstaunlich rasch gehandelt. Das dicke Mädchen hatte die Soldaten nicht gesehen. Es hatte die ganze Zeit geschlafen, während die Soldaten das Haus durchsuchten. Als es schließlich in die Werkstatt ging, war niemand mehr dort, und so hatte es sich auf den Heimweg gemacht. Seine späte Heimkehr und etwas an dem Verhalten von Julius hatten die Mutter argwöhnisch werden lassen. Nach eingehender Befragung gestand ihr ihre Tochter schließlich, daß Julius und Sextus ihr befohlen hatten, auf der Straße nach Soldaten Ausschau zu halten. Hatte dieser Sextus ihn also doch in Schwierigkeiten gebracht!
Sobald Julius und sein Vater weg waren, hatte sie das Zimmer durchsucht. Sie hatte die Tasche sofort gefunden, ihren Inhalt gesehen, kurz erschrocken innegehalten und dann verkündet: »Wir müssen das Zeug loswerden!« Doch was sollte sie bloß damit machen? Einmal in ihrem Leben war sie froh, daß ihre Tochter so dick war. »Steck das Ding unter deine Kleider!« befahl sie ihr. Dann legte sie ihren Umhang an und machte sich zusammen mit ihrer Tochter auf den Weg.
Zuerst dachte sie daran, die Tasche in den Fluß zu werfen, doch am Ufer waren zu viele Leute. Also ging sie mit dem Mädchen zum Tor in der westlichen Stadtmauer. Alle Stadttore sollten eigentlich bei Dämmerung geschlossen werden, doch an warmen Sommerabenden wurde diese Vorschrift meist nicht befolgt. Das dicke Mädchen und die Mutter gingen durch das Tor, hielten jedoch kurz danach an. Die Straße vor ihnen führte über eine Brücke zu dem Quellheiligtum, aber auf diesem Weg gingen einige Leute spazieren. Links und rechts von der Straße befand sich ein Friedhof.
»Gib mir die Tasche, und geh wieder heim!« befahl die Mutter. »Und sag niemandem etwas, vor allem nicht Julius! Hast du mich verstanden?« Als das Mädchen davongewatschelt war, ging die Mutter auf den Friedhof. Sie suchte erfolglos nach einem offenen Grab. Am anderen Ende des Friedhofs kam sie am oberen westlichen Tor vorbei und setzte ihren Weg parallel zur Stadtmauer fort.
Hier war es sehr ruhig. Mit ihren horizontalen Streifen wirkte die Mauer ziemlich gespenstisch. Am Fuß der Mauer war ein tiefer Verteidigungsgraben gezogen, der in der Dunkelheit
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