London
das noch vor Morgengrauen bei Ebbe auslief.
Die Gruppe, die sich einen Tag später im Haus der Flemings versammelte, war düster gestimmt. Die Sache war unerklärlich. Keine Nachricht war gekommen; niemand hatte irgend etwas gesehen; man fand keine Spur von einer Leiche. Die Aldermen hatten bereits eine Suchaktion in die Wege geleitet. Alderman Ducket hatte sich, obwohl er keinen von ihnen mochte, höflich und sogar freundlich verhalten und war selbst gekommen, um ihnen zu sagen, daß die Wachtmeister der Stadt bisher nichts gefunden hatten. Weder Dogget noch Carpenter, noch die Brüder Burbage wußten, was man weiter unternehmen konnte.
Die Brise kam vom Südwesten, sie waren daher gut in Richtung der Mündung vorangekommen. Gegen Mitte des Vormittags waren sie an der letzten großen Biegung des breiter werdenden Flusses; am frühen Nachmittag fuhren sie über die breite Öffnung des Medway zu ihrer Rechten, während links von ihnen bereits die ostenglische Küste lag und spätnachmittags im Horizont versank.
Jane stand an Deck und atmete die herbe, salzige Luft ein. Sie war geraubt worden. Der Finstere Barnikel ging kein großes Risiko ein, denn wer würde das erraten? Und selbst wenn, was konnte man dagegen unternehmen? Bald waren sie auf hoher See.
Orlando Barnikels ursprünglicher Plan bei seiner Ankunft in London war es gewesen, sich eine Frau zu suchen. Er war der Frauen in den Häfen überdrüssig. Er hatte Geld genug, um sich niederzulassen, wann immer er wollte, und oft, wenn er auf fernen Meeren segelte, hatte er an seinen rothaarigen alten Vater und an seine stämmigen, freundlichen Vettern in Billingsgate gedacht und überlegt, wie gerne er an dem einzigen Ort in der Welt, den er Heimat nennen konnte, eine Braut finden würde.
Die Barnikels in Billingsgate gaben ihm zu verstehen, daß kein Mädchen in London, gleichgültig welch niedriger Herkunft, dazu gebracht werden könne, einen Mohren zu heiraten. »Du bist unser Vetter und wirst es immer sein«, erklärten sie. »Aber eine Heirat…« Alderman Ducket hatte ähnliche Bedenken geäußert.
Orlando hatte kurz gehofft, daß Edmunds Stück ihn in ein besseres Licht setzen würde – genug, um irgendein Mädchen zu beeindrucken. Doch auch das war eine bittere Illusion gewesen. Und so, als er mit sich kämpfte, ob er Meredith töten solle oder nicht, war er zu einem anderen Schluß gekommen. Warum sollte er diesen Londonern, die ihn verachteten, die Gelegenheit verschaffen, seinen Kopf eines Tages durch eine Schlinge zu stecken? Sein Zorn, seine Verletztheit und seine Ehre mochten nach Meredith' Tod verlangen, doch Orlando konnte den jungen Mann auf eine andere Art bestrafen und zugleich sein eigenes Problem lösen. Er raubte Meredith' Mädchen.
»Bis wir zurückkehren, wird sie sagen, daß sie freiwillig mit mir gekommen ist«, prophezeite er dem Maat. Er hatte an vielen Orten Erfahrungen gemacht, die das bestätigten.
Und so blickte Jane, ohne Illusionen über das, was sie erwartete, hinaus auf den östlichen Horizont. Da sie sich in ihr Schicksal ergeben hatte, verspürte sie ein seltsames Gefühl der Aufregung, als sie auf das offene Meer hinausfuhren. Sie dachte voller Zuneigung an ihre Eltern, an Dogget und an Meredith, doch dann ließ sie das Bild ihrer Gesichter im Wind verwehen.
DIE FLAMME GOTTES
1603
ZWEI MÄNNER AUF der britischen Insel, mehrere hundert Meilen voneinander entfernt, ersehnten in den nassen, windigen Märztagen des Jahres 1603 ein persönliches Zeichen von Gott. Im Norden wartete Jakob Stuart, König von Schottland, auf einen Boten. Denn unten im Süden, in einem Palast an der Themse, lag die alte Königin Elisabeth im Sterben. Und wer sollte ihr Nachfolger werden?
Jakobs Großmutter stammte aus dem Hause Tudor, sie war König Heinrichs Schwester gewesen, so daß er der nächste Blutsverwandte war. Obwohl Sohn dieser heimtückischen Katholikin Maria, Königin der Schotten, war Jakob selbst makellos. Man hatte ihn auf den Thron seiner Mutter gesetzt, die er kaum kannte, und ihn dazu ausgebildet, als vorsichtiger Protestant zu regieren. Dafür hatte das strenge schottische Reformationsparlament gesorgt.
Dann, eines Morgens, kam Wind auf, und der Sturm der Zeit blies durch die Ahnengalerie der Tudors. Ein Bote ritt nach Norden. Das Zeitalter der Stuarts hatte begonnen.
Von St. Mary-le-Bow aus ein Stückchen die Gasse hinunter, dort wo früher einmal ein Gasthaus gewesen war und vor Jahrhunderten das Schild mit dem Bullen
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