London
ihre Großmutter sorgen, nahm sie das als Pflicht der Liebe auf sich. Als Cuthbert auszog und das Globe baute, besuchte sie ihn weiterhin und betete für seine Seele, obwohl ihre Großmutter ihn verfluchte. Nun hielt sie ihrem Bruder die Bibel hin. »Schwöre«, sagte sie.
Mit vielen anderen Puritanern teilte Martha die Tugend der Hoffnung, eine wichtige Tugend, die die Welt verändern sollte. Die Reformation war nicht nur gekommen, um zu zerstören. Die wahre Lehre der Protestanten, wie sie es sahen, war eine Lehre der Liebe, und ihre besten Prediger vermittelten eine Botschaft außergewöhnlicher Freude.
Es gab viele solcher Männer in London. Als Kind war ihr Lieblingsprediger ein Schotte gewesen, ein alter Mann mit krausem weißem Haar und blauen Augen. »Nimm den Prunk, die Weltlichkeit und den Aberglauben der Kirche Roms fort«, hatte er ihr gesagt, »und was bleibt? Die Wahrheit. Denn wir haben das Wort Gottes in der Heiligen Schrift.« Wenn sie die Bibel las, sprach Gott unmittelbar zu ihr.
Mehrere ihrer Nachbarn im kleinen Kirchensprengel St. Lawrence-Silversleeves waren ebenfalls Puritaner. Wenn sie zusammenkamen, um eine Predigt zu hören oder gemeinsam in einem ihrer Häuser zu beten, geschah das im Geist der Nächstenliebe. Ermahnungen waren selten. Jede Gemeinde im presbyterianischen Schottland und in den calvinistischen Gebieten Europas war auf diese Art aufgebaut. Es gab keine Priester, jede Gemeinde wählte ihren eigenen Vorsteher. Es gab auch keine Bischöfe. Die Kirchspielversammlung wählte reihum regionale Ausschüsse, um ihre Tätigkeiten zu koordinieren. Und die Entwicklungen im Ausland hatten die Saat der größten aller Hoffnungen keimen lassen – daß Gottes Königreich vielleicht auf Erden kommen könne.
Natürlich konnte das wahre und vollkommene Königreich erst am Ende der Welt erwartet werden, das wußte man aus dem Buch der Offenbarung. Aber man konnte sich diesem Zustand immerhin nähern. War es nicht die klare Pflicht jedes frei geborenen Puritaners, zusammen mit seinen Brüdern zum Licht zu streben und Gottes Königreich – die strahlende Stadt auf einem Hügel – hier und jetzt aufzubauen? Letztendlich war das nicht mehr als der mittelalterliche Gedanke einer Gemeinde, doch diesmal eine Gemeinde für Gott.
Martha besaß auch die Tugend der Geduld, und Geduld war vonnöten. Als König Jakob aus dem presbyterianischen Schottland nach England gekommen war, hatten die Puritaner freudig erwartet, er würde den wahren Glauben mitbringen. Aber Jakob hatte es nicht gefallen, von den schottischen Presbyterianern gegängelt zu werden, und ihm war klar, daß die Autorität der Monarchie von der Oberhoheit über die anglikanische Kirche abhing. Die englische Staatskirche mit ihrem reformierten katholischen Glauben, ihren Bischöfen, Zeremonien und allem anderen mußte bleiben.
So hatte immer noch der Bischof von London die Herrschaft über die alte St.-Paul's-Kathedrale, und der Geistliche in dem kleinen Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves, unterstützt von Ducket und anderen Kirchenältesten, drang darauf, daß Martha und die puritanischen Gemeindemitglieder dreimal im Jahr zur Kommunion gingen und respektvoll ihren äußeren Konformismus zur Staatskirche zu Schau stellten.
Das Buch, das Martha nun ihrem Bruder hinschob, war die Genfer Bibel. Sie enthielt die gesamte Heilige Schrift, zur Zeit Heinrichs VIII. von Tyndale und Coverdale in einfaches Englisch übersetzt, und war seit einem halben Jahrhundert die geliebte Schrift jedes englischen Protestanten. Sogar illustriert war sie. Zwar war in diesem Jahr auf Geheiß des Königs eine neue Übersetzung entstanden, die weniger calvinistisch im Tonfall, aber auch weniger vertraut war. Obwohl sich diese neue King James Bible, die nun autorisierte Version, an der geliebten Genfer Bibel orientierte, enthielt sie viele klangvolle, vom Latein inspirierte Wendungen, die einfachen Puritanern nicht gefallen konnten, und wie die meisten wahren Protestanten hatte Martha nicht vor, sie zu benutzen.
Sie hatte Geduld mit Cuthbert gebraucht. Ihre Großmutter hatte gesagt, er sei verdammt, aber sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Und allmählich schien es, als würden ihre Gebete erhört. Er hatte ein vernünftiges, durchaus nicht gottloses Mädchen geheiratet. Nach der Geburt einer Tochter überredete Martha die alte Frau sogar zu einem Besuch. Und nach der Geburt des ersten Sohnes hatten Cuthbert und seine Frau Martha gebeten, ihm einen Namen
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