London
Zeichen des Erkennens, und der Pferdeknecht verscheuchte ihn mit einer gebieterischen Armbewegung. »Fort mit Ihnen.«
»Ich bin Fleming, Mylady«, versuchte der Bäcker es noch einmal und hielt ihr seine Rechnung hin.
Lady St. James schrak vor ihm zurück. Die Peitsche des Kutschers knallte neben seinem Ohr, laut wie eine Pistole, und erschreckte ihn so, daß er torkelte und auf dem Kopfsteinpflaster ausrutschte. Er wollte sich irgendwo festhalten, erwischte etwas Weiches – Lady St. James' Seidenschal. Eine Sekunde später sah er ihr Gesicht und keuchte auf.
Lady St. James versuchte nicht, ihr geschwollenes, blaugeflecktes Gesicht zu verbergen, sondern beschloß, ihm die Meinung zu sagen. »Wie können Sie es wagen, an mich heranzutreten, Sie gewöhnlicher, kleiner Händler? Wollen Sie mich auf der Straße belästigen? Ihre Rechnung ist ohnehin schändlich. Kein Mensch wollte Ihre gräßlichen Kuchen anrühren. Sie können sicher sein, daß niemand aus der vornehmen Gesellschaft sie je wieder kaufen wird. Und wenn ich noch einmal von Ihnen höre, werde ich Sie wegen tätlichen Angriffs verhaften lassen.« Sie rauschte ins Haus, und der Kutscher versetzte Fleming einen Peitschenhieb über die Beine, daß er aufschrie.
Traurig stolperte der arme Bäcker den Piccadilly hinunter. Man hatte ihn geschlagen und erniedrigt; seine Hoffnung auf ein neues Schaufenster war dahin. Dreißig Pfund waren weg. Und wie sollte er das Straßenpflaster bezahlen? Als er an Fortnum and Mason vorbeikam, setzte er sich hin und weinte.
Eine sternenhelle Nacht auf dem Wasser; es hätte in Venedig sein können. Wie eine Gondel glitt das Boot die dunkle Themse hinauf. Die hochgewachsene Gestalt, die elegant auf dem Passagiersitz saß, trug einen Dreispitz, einen Domino – einen schwarzen Seidenumhang mit Kapuze nach italienischer Art – und eine weiße Maske über dem Gesicht, die ihr ein geisterhaftes Aussehen verlieh.
Diese venezianische Maskerade war seit einer Generation sehr in Mode. Bei fast allen Gesellschaften in London war eine Verkleidung gefordert, von den großen Bällen, bei denen phantastische Kostüme ein Muß waren, bis zu den normalen Theaterabenden, wo man in den Logen eine ganze Reihe von Ladys und Gentlemen mit Masken sehen konnte. Denn was war das Leben der eleganten Welt ohne Theater, Künstelei und einen kleinen Schauder von Geheimnis?
Langsam fuhr das Boot um die große Flußbiegung. Rechts ragten die vertrauten alten Gebäude des Whitehall-Palastes am Ufer auf.
Während Jack Meredith daran dachte, was er heute abend tun mußte, behielt er einen kühlen Kopf. Offiziell war er noch im Clink, doch für ein kleines Entgegenkommen erlaubte Silversleeves seinen Gentlemen schon einmal einen kurzen Urlaub, wenn sie versprachen wiederzukommen, und Lady St. James hatte ihm fünf Guineen gegeben. Was die Moral der Sache anbelangte, hatte Meredith wenig Skrupel. Er verachtete St. James, und außerdem wollte er sich an die Spielregeln halten.
Bald sah er jenseits des Lambeth Palace am südlichen Ufer die Lichter seines Ziels, die wie eine Perlenschnur am Ufer glitzerten. Fünf Minuten später stieg er bei den Vergnügungsgärten von Vauxhall aus. Der Eingang zu den Gärten führte durch den Torweg eines großen georgianischen Gebäudes, und unmittelbar danach blickte er auf eine lange Allee, die von Hunderten von Lampen beleuchtet war. Rechts davon sah er die Umrisse des Musikpavillons; links stand eine prächtige, sechzehneckige Rotunde, in der Tänze und Gesellschaften veranstaltet wurden, ganz in der Nähe der Logen, in denen die Besucher Konzerten lauschen konnten. Diese Logen, ausgeschmückt mit Wandvertäfelungen, die von Hogarth, dem jungen Gainsborough und anderen bemalt worden waren, gehörten zu Meredith' Lieblingsplätzen. Heute abend jedoch machte er sich auf die Suche nach seinem Opfer.
Es war ein Abend, an dem Masken getragen wurden. Manche trugen nur eine schwarze Halbmaske, die die obere Gesichtshälfte verdeckte; ein oder zwei Frauen hatten sich für Schleier entschieden. In der Regel erkannten sich die Angehörigen der Gesellschaft, aber nicht immer. Meredith warf einen Blick in die Rotunde, sah Lord St. James dort aber nicht und schritt die lange Allee entlang, auf der eine Reihe von Paaren herumspazierten. Seitlich davon waren dunklere, baumgesäumte Gassen, in denen man sich manchmal zu Begegnungen heimlicherer Art traf. Schließlich sah Meredith Lord St. James in einer Gruppe von Gentlemen, die
Weitere Kostenlose Bücher