London
begann man, zum eigenen Schutz germanische Söldner einzustellen. Doch als der alte Handel mit dem Festland abgebrochen war, ging alles bergab; regionale Führer erhoben sich; die Söldner ließen sich nieder und benachrichtigten ihre Stämme auf der anderen Seite des Meeres, daß die Inselprovinzen schwach und uneins seien. Es kamen Stämme aus den Küstenbereichen des heutigen Deutschland und Dänemark – Angeln, Sachsen und wahrscheinlich auch noch ein mit ihnen verwandter Stamm, die Jüten. Die meisten dieser Menschen hatten helle Haare und blaue Augen.
Sie kamen in einem steten Strom. Manchmal leistete man ihnen erfolgreich Widerstand. Um das Jahr 500 gelang es einem römisch-britannischen Führer, das westliche Land gegen sie zu verteidigen; sein Name, der von Chronisten lange Zeit danach herausgefunden wurde, gab den Anstoß zur ArtusLegende.
Doch trotz dieser tapferen Versuche, die alte römischbritannische Welt zu erhalten, wurden die Einwanderer innerhalb von hundertfünfzig Jahren die Herren in der englischen Welt. Es gelang ihnen nicht, Wales im äußersten Westen und Schottland im Norden zu kolonisieren, doch an allen anderen Orten starben die alten keltischen und lateinischen Sprachen aus. Erhalten blieben nur einige Orts- und Flußnamen, zum Beispiel Thames, das vom lateinischen Tamesis abgeleitet wurde. Die Siedlungen der Fremden entwickelten sich zu berühmten Königreichen: in Nordhumbrien und in Mercien in der Mitte der Insel ließen sich die Angeln nieder; im Süden lagen die Königreiche der Sachsen, Wessex im Westen, Sussex in der Mitte und Kent auf der Halbinsel, auf der früher der Stamm der Cantii gelebt hatte. Der weite östliche Landstrich auf der Kent gegenüberliegenden Seite der Flußmündung wurde geteilt: In der nördlichen Hälfte lebten die Angeln in Ostanglien, in der südlichen der ostsächsische König von Essex.
Elfgiva kehrte nun aus Ostanglien zu ihrem Mann zurück.
Hier war sie aufgewachsen. Jedes Jahr stattete sie dem Grab ihres Vaters einen Besuch ab. Vor allem diesmal hatte sie gehofft, der Besuch würde ihr Kraft verleihen, und er hatte es gewissermaßen auch getan. Sie war an der Küste entlanggewandert und hatte die stürmische, salzige Brise genossen. Etwas weiter landeinwärts lag der Bestattungsort ihres Volkes, eine Reihe von Hügeln, bei denen sie mehrere Stunden verbracht hatte. Der höchste Hügel war das Grab ihres Vaters.
Sie hatte ihn geliebt und bewundert. Er hatte sämtliche nördliche Meere befahren und sich eine schwedische Braut genommen. Er war ein derart kühner Seefahrer gewesen, daß man ihn in seinem Schiff mit all den ihm zustehenden Grabbeigaben bestattet hatte. Wachten die Götter des Nordens noch über ihm? Sie zweifelte nicht daran. Waren sie nicht in sein Blut übergegangen? Sie hatten doch sogar den Tagen der Woche ihre Namen gegeben. Tiw, der Kriegsgott, hatte den Dienstag anstelle von Mars im römischen Kalender; Woden oder Wotan, wie die Germanen ihn nannten, der höchste Gott, hatte den mittleren Tag in der Woche; Thunor oder Thor, der Donnergott, den Donnerstag; Frigg oder Freya, die Göttin der Liebe, den Freitag anstelle der römischen Venus.
»Mein Urgroßvater war der jüngste Bruder einer königlichen Linie«, hatte ihr Vater ihr immer wieder zu bedenken gegeben. »Wir stammen also direkt von Woden ab.« Fast alle königlichen Familien von England behaupteten, von Woden abzustammen.
War dies nicht das Erbe, das sie an ihre vier Söhne weitergegeben hatte? Hatte sie ihnen nicht erklärt, daß sie Kinder der Götter seien? Was hätte ihr Vater wohl zu der neuen, schändlichen Forderung ihres Gatten gesagt? Der Besuch am Grab ihres Vaters hatte ihr zwar Kraft, aber keinen Trost gespendet. Ihr Gatte verlangte von ihr, Christin zu werden.
Umringt von sämtlichen Dorfbewohnern standen der Mann und seine hübsche junge Frau nebeneinander am Fluß. Beide waren zutiefst verängstigt. Sie trugen schlichte Hemden und Beinlinge, die mit Zwirn festgebunden waren. Nun zogen zwei Frauen dem Mädchen die Strümpfe aus, und danach würden sie sich auch noch über das Hemd hermachen.
Das Verbrechen und die Verhandlung hatten am Vortag stattgefunden, und auch die Bestrafung wäre an diesem Tag erfolgt, wenn der Dorfälteste nicht beschlossen hätte zu warten, bis sie eine Schlange gefunden hätten. Nun hatten sie eine.
Auf dem Boden vor dem Mädchen lag ein großer Sack, in den man ein paar schwere Steine gelegt hatte. Das hellhaarige
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