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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Mädchen würde gezwungen werden, in den Sack zu steigen. Dann würde man die Viper hineinwerfen, den Sack zubinden und dabei zusehen, wie es im Sack zuckte, wenn das Opfer von der Schlange gebissen wurde. Dann würde man den Sack in den Fluß werfen und ihn untergehen lassen. So bestrafte man eine Frau wegen Hexerei.
    Ihre Schuld stand außer Frage. Der junge Mann hatte zwar protestiert, daß seine Frau nichts damit zu tun habe, aber er war aus ihrer Hütte getreten, bevor er es getan hatte, und sie war in der Hütte gewesen. In den Augen der Dorfbewohner war sie deshalb schuldig. Die alten Gesetze der Angelsachsen – die dooms – waren hart und unnachgiebig.
    Dem jungen Mann, Offa, wurde mehr Sympathie entgegengebracht, obwohl auch er bestraft werden würde. Die Sache war eindeutig. Der Dorfälteste, ein großer, verschlagener Mann, hatte ein Auge auf Offas junge Frau geworfen. Er hatte versucht, sie zu verführen, und war kurz davor gestanden, sie zu vergewaltigen, bevor ihre Schreie ihn davon abgehalten hatten. Schlimmeres war nicht passiert. Doch Offa liebte seine Frau, und sie liebte ihn. Er konnte den Gedanken an diesen tätlichen Übergriff nicht ertragen. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er den Dorfältesten einfach verprügelt hätte. Zwiste wurden meist durch Zahlungen beigelegt; oft wurde sogar ein Tod durch Geldzahlung an die Familie des Betroffenen gesühnt. Doch Offa hatte, zweifellos von seiner Frau angestachelt, am Vortag den Dorfältesten mit einer Nadel gestochen, und dies war Hexerei.
    Oft wurde eine Nadel in das Abbild eines Opfers gesteckt, doch eine schlimmere Hexenmethode bestand eben darin, das Opfer selbst zu stechen, in der Absicht, daß die Wunde so lange schwelte, bis das Opfer daran starb. Dies war das schreckliche Verbrechen, das Offa vorgeworfen wurde.
    Offa, ein recht tüchtiger Bursche, war zwanzig Jahre alt und etwas kleiner als die meisten anderen sächsischen Dorfbewohner. Er hatte braune Haare, während die anderen eher blonde hatten, wenn auch seine Augen wie die der übrigen blau waren. Sein Verstand war rege, aber er brauste auch leicht auf, was ebenfalls dafür sprach, daß in seinen Adern mehr keltisches als sächsisches Blut floß. Und er hatte zwei auffallende körperliche Merkmale: Am Haaransatz gleich über der Stirn hatte er eine weiße Strähne, und zwischen seinen Fingern wuchs eine merkwürdige Haut, weshalb ihm die Dorfbewohner den Spitznamen »Ente« gegeben hatten.
    Vor etwa hundertfünfzig Jahren hatte seine Familie die einstmals römische Stadt Londinium verlassen. Es waren einfache Händler, die auch im Militär dienten. Als die römischen Legionen abzogen, hatten sie besorgt den Verfall der Stadt beobachtet. Im Jahr 457, als Tausende von Menschen aus Kent auf der Flucht vor dem gewaltigen Ansturm sächsischer Angreifer in die Stadt strömten, wohnten sie noch in Londinium. Zwar hatte die enorme Stadtmauer, die mit zusätzlichen Bastionen und einem großen Wall am Flußufer verstärkt worden war, die Stadt geschützt, doch es war ihre letzte ruhmreiche Stunde und der Beginn ihres Niedergangs.
    Die sächsischen Bauern, die sich im Land niederließen, hatten keinen Verwendungszweck für Städte. Die alte Metropole verfiel, die Menschen verließen die Stadt. Eine Generation später verarmte Offas Familie, die darauffolgende verließ die Stadt. Offas Großvater hatte sich als Köhler in den Wäldern von Essex durchgeschlagen, sein Vater, ein fröhlicher Kerl mit einer wunderbaren Stimme, wurde in dieses kleine sächsische Dorf aufgenommen und durfte sogar ein sächsisches Mädchen heiraten. Das Dorf war Offas Familie; er hatte keine andere.
    Das Dorf lag in einer kleinen Rodung im Wald an einem der vielen Flüsse, die durch die Wälder und Sümpfe hinunter zur Themse flossen. Ein paar braune, strohgedeckte Hütten standen daneben, eine lange Holzscheune, zwei Felder, eine Wiese und ein großer offener Fleck, auf dem vier Kühe und ein struppiges Pferd grasten. Am Flußufer lag ein schwarz bemaltes Boot.
    Früher einmal war, nicht weit entfernt von diesem Weiler, eine Römerstraße von Londinium zur Ostküste verlaufen, aber inzwischen war sie völlig zugewachsen. Es gab nur einen gewundenen Pfad durch den Wald, auf dem gelegentlich Besucher ins Dorf kamen, und über den Fluß führte eine kleine Holzbrücke.
    Der junge Offa war einer der ärmsten Dorfbewohner. Er besaß nicht einmal eine Viertel Hufe Land, die einem Kleinbauern gewöhnlich zustand. »Ich

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