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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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habe nur einen Farthing«, hatte er seine Braut gewarnt, als er sie umwarb – nur das Sechzehntel einer Hufe. Für seinen Lebensunterhalt arbeitete er für andere. Doch er war frei. Aber nun, sobald man seine Frau ertränkt hatte, würde man ihn mit etwas bestrafen, das vielleicht noch schlimmer war als der Tod.
    »Er soll den Wolfskopf tragen«, hatte der Dorfälteste verkündet. Er sollte vogelfrei wie ein Wolf im Wald leben. Ein Vogelfreier hatte keine Rechte. Er mußte für immer umherziehen, allein leben und sterben. So sahen es die angelsächsischen Gesetze vor.
    Ricola, seine Frau, war inzwischen nackt. Sie war kreidebleich. Er wußte, daß sie ihn liebte, doch nun sagte ihm ihre Miene nur eines: Du hast mir das angetan. Ich werde sterben, du nicht. Viele der Männer starrten sie lüstern an. Sie hatte einen wohlgeformten jungen Körper, weiche junge Brüste. Zwei Männer hielten den Sack offen.
    »Woden«, murmelte der junge Mann, »rette uns!«
    Elfgiva und ihre Leute ritten langsam. Es war nur eine Tagesreise, und sie wußte noch immer nicht, was sie tun sollte. Es ging nicht nur darum, ihrem Glauben abtrünnig zu werden, auch wenn nichts ihr wichtiger war als ihr Glaube. Da war noch etwas anderes, ein instinktives Gefühl, daß Unheil drohte. Und je näher sie ihrem Heim kam, desto schlimmer wurde dieses Gefühl. War dies eine Botschaft der Götter?
    Die Reisenden ritten durch niedrige Bäume, dürres Gras, braunen Adlerfarn. Elfgiva dachte an die Worte ihres Vaters, die er vor vielen Jahren einmal geäußert hatte: »Wenn jemand eine Reise antritt, dann bereitet er sein Schiff vor, legt seinen Kurs fest und setzt die Segel. Aber er wird nicht wissen, was auf ihn zukommt, mit welchen Stürmen er zu kämpfen haben wird, welche neuen Länder er findet und ob er jemals von seiner Reise zurückkehrt. Dies ist das Schicksal, und du mußt es annehmen. Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen.«
    Wyrd hieß es auf Angelsächsisch. Wyrd war unsichtbar und lenkte dennoch alles. Selbst die Götter mußten sich ihm unterwerfen. Sie waren nur die Darsteller, wyrd war das Drehbuch. Wyrd war weder gut noch schlecht, es war nicht greifbar, doch man spürte es ständig, in der Erde, auf der wogenden See, im grauen Himmel. Jeder Angelsachse und Nordmann kannte wyrd, das über Leben und Tod entschied und den Liedern und Gedichten einen nachhaltigen Fatalismus verlieh.
    Nur das Schicksal konnte bestimmen, was passieren würde, wenn sie ihren Mann traf. »Ich werde entscheiden, was ich ihm sage, wenn ich ihn sehe«, murmelte sie. Sie wollte heute nacht zu Woden und Frigg beten.
    Bei ihrem Ritt durch den Wald stießen sie auf den Fluß. Er war tief, und sie stellte mißmutig fest, daß sie wohl naß werden würde, wenn sie versuchten, den Fluß hier zu überqueren. Auf der Suche nach einem besseren Übergang fiel ihr Blick auf die sonderbare kleine Gruppe am Ufer, und sie trieb ihr Pferd zum Trab an.
    »Was hat sie getan?« Elfgiva starrte neugierig auf das nackte Mädchen. Der Dorfälteste beeilte sich, ihr alles zu erklären. Elfgiva musterte noch einmal eingehend das junge Paar. Warum hatte das Schicksal sie in eben diesem Moment hierhergeführt? Vielleicht, um Leben zu retten? »Was wollt Ihr für die beiden? Ich werde sie kaufen, als Sklaven.«
    Der Dorfälteste zögerte. Natürlich konnte man bei bestimmten Vergehen jemanden zu einem Sklaven machen, aber er war sich nicht sicher, ob es in dem vorliegenden Fall das richtige doom sei.
    Elfgiva nahm eine Münze aus dem Beutel an ihrem Gürtel. Die Sachsen hatten keine eigenen Münzen, sie verwendeten diejenigen der Händler, die von der anderen Seite des Ärmelkanals kamen. Die Münze war aus Gold. Sämtliche Dorfbewohner starrten sie an. Nur wenige hatten jemals so etwas gesehen, doch der Dorfälteste und ein paar der Männer ahnten, wie wertvoll es war.
    Der Dorfälteste merkte gleich, was seine Leute von ihm hören wollten. Er gab den Frauen ein Zeichen, das Mädchen freizulassen, das sich rasch wieder anzog.
    »Schneidet ihnen die Haare ab!« befahl Elfgiva ihren Dienern. So wurden alle Sklaven gezeichnet. Sobald dies geschehen war, überreichte Elfgiva dem Dorfältesten die Münze, dann wandte sie sich an das junge Paar. »Ihr gehört jetzt mir. Lauft hinter mir her!« befahl sie. Und sie ritt über die kleine Brücke davon.
    Eine Weile sagte keiner der Reisenden ein Wort. Offa merkte, daß sie fast direkt nach Westen unterwegs waren. »Lady«, rief er schließlich

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