London
zwischen Julius und Martina etwas entwickeln könnte. Und als der Kapitän ein Jahr später auf hoher See ums Leben kam, übernahm Julius sein Geschäft und heiratete seine Witwe. Nach der Geburt seines zweiten Sohnes trat Julius zur großen Freude seines Vaters als offizielles Mitglied in den Mithrastempel ein.
Nur eine Sache ließ Julius zeit seines Lebens keine Ruhe. Wieder und immer wieder kehrte er an den Ort zurück und suchte ihn ab, bei Tag und bei Nacht. Der Zenturio hatte bei seiner überraschenden Abkommandierung den schweren Schatz bestimmt nicht mitnehmen können. Es mußte also noch irgendwo, ganz in der Nähe der Stelle, an der der Eselkarren gestanden hatte, ein Versteck geben, in dem ein Schatz von schier unberechenbarem Ausmaß ruhte. Monate vergingen, Jahre vergingen, ohne daß Julius seine Suche einstellte. An langen Sommerabenden stand er oft am Kai oder an der großen Mauer von Londinium, beobachtete den Sonnenuntergang und fragte sich, wo, bei allen Göttern, das Gold versteckt sein mochte.
DAS KREUZ
604
DIE FRAU STARRTE auf das Meer. Ihr langes, offenes Haar fiel lose auf ihr Jagdgewand. Die klare Herbstsonne stand noch im Osten. Drei Tage hatte sie an diesem wilden Ort verbracht, den sie zu ihrer Zuflucht gewählt hatte, doch nun mußte sie zurück und einen Beschluß fassen. Was würde sie ihrem Mann sagen?
Es war Haligmonath, der heilige Monat, wie er in den heidnischen Ländern im Norden hieß. Früher, bei den Römern, war es der Monat September gewesen.
Sie stand an einer Stelle der gewundenen Küste nördlich der Themsemündung, wo England etwa siebzig Meilen nach Osten in die Gewässer der kalten Nordsee hineinragt. Vor ihr lag das große, graue Meer. Hinter ihr erstreckten sich bis zum Horizont Flachmoore und Heideland, Wälder und Felder. Zu ihrer Rechten zogen sich lange, einsame Strände fünfzig Meilen Richtung Süden bis zum breiten Mündungsbereich der Themse hin.
Sie hieß Elfgiva, was in der angelsächsischen Sprache »Geschenk der Elfen« bedeutete. Ihr reichbesticktes Gewand ließ ihre edle Herkunft erkennen. Sie war siebenunddreißig Jahre alt und hatte bereits vier erwachsene Söhne. Ihr Gesicht war hübsch, ihre Augen strahlend blau. Zwar hatten sich bereits einige Silbersträhnen in ihr blondes Haar eingeschlichen, doch sie war noch immer eine sehr gutaussehende Frau. Ich könnte noch einmal ein Kind bekommen, dachte sie, vielleicht sogar die Tochter, nach der ich mich so lange gesehnt habe. Aber welchen Sinn hätte dies, solange diese schreckliche Sache noch ungelöst war?
Die beiden Diener, die bei den Pferden auf sie warteten, hatten Mitleid mit ihr. Der ganze Haushalt wußte, daß sich der Herr und die Herrin nach vielen glücklichen Ehejahren plötzlich entzweit hatten.
»Sie ist sehr tapfer«, flüsterte ein Stallbursche dem anderen zu. »Ob sie wohl standhaft bleiben wird?«
»Nicht gegen den Herrn«, erwiderte der andere. »Er bekommt immer seinen Willen.«
»Das ist wahr«, pflichtete der Pferdeknecht ihm bei. »Aber sie ist stolz.« Bei den Angelsachsen in England war es für eine Frau nicht leicht, stolz zu sein.
In den vergangenen zweihundert Jahren hatte sich in Britannien einiges grundlegend verändert. Mit dem Untergang des Römischen Reiches hatte auch Britannien aufgehört, eine römische Provinz zu sein. Wie viele andere Teile des Imperiums war auch dieses Land von Eindringlingen erobert worden.
Es waren schon immer Barbaren an den Toren ihres Reiches gestanden, aber die Römer hatten sie entweder abgewiesen oder als Siedler integriert. Als das ausufernde Reich um 260 herum in Regionen auseinanderbrach, wurden die Anstürme immer unkontrollierbarer. Um 400, als das Auftauchen der schrecklichen Hunnen aus Asien die vielen Stämme in Osteuropa zutiefst beunruhigte, setzte eine große Völkerwanderung nach Westen ein. Langsam siedelten sich die Goten, Lombarden, Burgunder, Franken, Sachsen, Bajuwaren, Slawen und viele andere neben der dort bereits wohnenden Bevölkerung an und errichteten ihre Stammesterritorien. Die alte Ordnung und Zivilisation Westeuropas wurden zerstört. Der römische Kaiser zog unter starkem Druck seine Truppenverbände aus Britannien ab und ließ den Provinzen auf der Insel die düstere Botschaft zukommen: »Verteidigt euch selbst!«
Anfangs schafften es die Inselbewohner ganz gut. Zwar fielen immer wieder germanische Piraten ein, aber die Häfen und Orte der Insel konnten sich verteidigen. Nach einigen Jahrzehnten
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