London
sie süße Brötchen, Krapfen und Süßigkeiten kaufen konnten. Am erstaunlichsten war aber wohl Capel Court 2, wo der große Preisboxer Mendoza einen Boxring führte. Junge Leute konnten dort entweder gegeneinander oder gegen einen Berufsboxer antreten.
Als Eugene eines Tages zufällig zusammen mit Meredith bei Mendoza vorbeikam, bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Da stand ein junger Bursche, nicht groß, aber sehr stämmig, bis zur Taille nackt und mit der Haltung eines Berufsboxers. Im Haar hatte er eine weiße Strähne, um den Hals ein rotes Tuch. Er hatte gerade einen Makler niedergeschlagen und fragte fröhlich, ob jemand anderer gegen ihn antreten wolle, als Meredith ihm einen Gruß zurief. »Hallo, George! Was machst du hier?«
»Hallo, Meredith!« Der junge Mann grinste. »Eine Runde gefällig?«
»Nein danke. George, das ist Eugene Penny. Penny, das ist Mr. George de Quette.« Der Enkel des Earls.
Jedermann hatte von George de Quette gehört. Er schlug mehr nach seinem munteren Großvater als nach dem sauertöpfischen Lord Bocton und war bekannt als der lebhafteste und lustigste junge Draufgänger in England. Er ritt wie ein Jockey, raufte wie ein Kampfhahn und scherte sich nicht um seinen gesellschaftlichen Rang. Seine Erfolge bei Frauen waren legendär. Sein Vater hatte ihn auf eine Bildungsreise durch den Kontinent geschickt, von der er unverändert zurückgekommen war. Er zog sich nun ein Hemd über, kam aus dem Ring und plauderte mit ihnen.
Als George Penny eine Woche später auf der Straße begegnete, erinnerte er sich sofort an ihn und lud ihn in ein Kaffeehaus ein. Penny stellte fest, daß der junge Aristokrat ein beträchtliches Wissen über Frankreich und Italien hatte und sehr belesen war. Sogar für Gedichte hatte er etwas übrig. »Natürlich liest jeder Lord Byron, er ist modern«, erklärte er. »Aber ich mag auch Keats. Seine Ode an die Nachtigall finde ich sehr schön.« Auch an der Bank schien er interessiert zu sein und fragte Eugene nach seinem Leben dort aus, und Eugene erzählte ihm sogar von seinen Termingeschäften.
1824
Heute waren sie weiter gekommen als gewöhnlich, da ein freundlicher Nachbar sie auf seinem Wagen mitgenommen hatte. Jeder in der ärmlichen kleinen Straße kannte Lucy und Horatio. Jeden Nachmittag nahm die dünne, blasse Fünfjährige den kleinen Kerl, der noch wacklig auf den Beinen war, mit nach draußen, weil man ihr sagte, dann würde er kräftiger werden. Horatio klammerte sich an ihre Hand und stapfte tapfer neben ihr her. Heute setzte der Nachbar, der in der Nähe der Strand zu tun hatte, die beiden Kinder bei Charing Cross ab und versprach, sie in einer halben Stunde dort wieder abzuholen. Vor ihnen lag ein leicht abschüssiges Gelände, wo später der Trafalgar Square entstehen sollte. Südlich davon mündeten die Prachtstraßen Whitehall und Pall Mall. Rechts war die klassizistische Fassade von St. Martin-in-the-Fields, und vor ihnen lag der Königliche Marstall, wo die Pferde und Kutschen des Königs untergebracht waren.
Der Sommernachmittag war heiß und staubig. In der Mitte des offenen Platzes war ein kleiner Markt aufgebaut, und mehrere Straßenhändler boten lautstark ihre Waren feil. Während die Kinder zufrieden herumspazierten, fiel ihnen eine junge Frau mit einem Korb auf. »Lavendel! Kauft meinen Lavendel!« rief sie mit feiner Stimme. Die junge Frau reichte ihnen ein frisches Zweiglein, und als Lucy erklärte, daß sie kein Geld hatten, lachte sie und sagte, sie solle es trotzdem behalten. Es duftete wundervoll, und Lucy fragte, wo das her sei.
»Vom Lavendelhügel natürlich«, antwortete die junge Frau. »Zwischen Battersea und Clapham Common.« Auf diesen Hügeln, nicht einmal drei Meilen entfernt, wurde Lavendel angebaut, erklärte sie Lucy. »Ist das dein Bruder?« fragte sie dann. »Er ist kränklich?«
»Er wird schon kräftiger.«
»Kennt er das Lavendellied?«
Lucy schüttelte den Kopf, und die junge Frau sang es ihm vor:
»Lavendel blau, dilly dilly, Lavendel grün –
Wenn du der König bist, dilly dilly, Bin ich Königin.
Du solltest ihm das öfter vorsingen«, forderte sie Lucy fröhlich auf.
Lucy und Horatio wollten gerade wieder zurückgehen, als die Frau ihres Nachbarn auf sie zueilte. »Kommt mit mir«, sagte sie.
Man hatte Will Dogget auf das Bett gelegt. An diesem Sommernachmittag war Will auf der Baustelle neben dem Regent's Park, wo eine Reihe eleganter Häuser errichtet wurden, an einem Gerüst
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