London
gestern hatte der graubärtige König Ethelbert seine Hand auf Cerdics Schulter gelegt, während Königin Berta zustimmend lächelnd daneben stand. Natürlich konnten sie ihm vertrauen. Waren nicht seine Vorfahren treue Gefährten des ersten Königs von Kent gewesen?
Der Hof des Königs von Kent war recht bescheiden. Früher einmal, in den Zeiten der Römer, hatte der Provinzort ein kleines Forum, einen Tempel, Bäder und andere steinerne Gebäude aufweisen können; heute umgab nur eine große Holzpalisade die Siedlung, in deren Mitte ein großes, scheunenartiges Holzhaus mit einem hohen, strohgedeckten Dach stand, König Ethelberts Halle. Nicht weit davon entfernt gab es eine weitere einfache Umzäunung um ein bemerkenswerteres Gebäude. Es war zwar kleiner als die Halle des Königs, doch es war aus Stein gebaut. Die Kathedrale von Canterbury hatte der Mönch Augustin persönlich errichten lassen. Möglicherweise war sie damals das einzige steinerne Gebäude im ganzen angelsächsischen England. Dieser kleine Bau markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der Insel.
»Und nun, mit Canterbury als Ausgangspunkt«, sagte die Königin eifrig, »kann die Missionsarbeit wirklich beginnen.«
Cerdic fand heraus, daß es für die Insel ehrgeizige Pläne gab. Die Missionare hatten vor, die Ostküste bis zum Norden zu bekehren. Doch zuerst einmal wollten sie die beiden Flußufer der Themsemündung sichern, was bedeutete, daß als nächstes der sächsische König von Essex bekehrt werden mußte. »Er ist mein Neffe«, erklärte König Ethelbert, »und hat aus Achtung vor mir bereits eingewilligt, sich bekehren zu lassen. Aber einige seiner Anhänger machen vielleicht Schwierigkeiten. Ihr seid Kent gegenüber loyal, Cerdic«, fuhr er fort, »Euer Handelsstützpunkt Lundenwic liegt am Nordufer, gehört also eigentlich zum Königreich meines Neffen. Ich möchte, daß Ihr den Missionaren jegliche Unterstützung zukommen laßt, die in Euren Kräften steht!«
Cerdic nickte. »Selbstverständlich!«
»Es sollte dort einen Bischof geben und eine Kathedrale«, fügte Königin Berta noch hinzu.
Cerdic verneigte sich. Dann fiel ihm ein, daß der König von Essex mehrere Wohnsitze hatte.
»Und wo will, wenn ich fragen darf, denn dieser Bischof seine Kirche errichten?« wollte er wissen.
Der König lachte. »Wie ich sehe, habt Ihr mich noch nicht ganz verstanden. Die Kathedrale wird in Lundenwic stehen.«
Am Spätnachmittag erreichte Cerdic sein Tagesziel. Von Canterbury aus war er dem Verlauf der alten Römerstraße gefolgt, die jetzt nur noch ein grasbewachsener Pfad war und zur Mündung des Medway führte, wo eine kleine sächsische Siedlung, Rochester, lag. Hier verließ er die alte römische Straße, die dem Flußlauf weiter nach Londinium folgte, und ritt landeinwärts, hinauf auf die steilen Hügel am nördlichen Teil der Halbinsel. Eine Weile hielt er sich am Kamm entlang, bis er am südlichen Rand der Hochfläche ankam. Er lächelte. Vor ihm lag sein Zuhause.
Das Anwesen, auf dem Cerdics Familie seit einhundertfünfzig Jahren lebte, lag knapp unterhalb des Hügelkammes. Es gehörte zu einem Weiler und einer etwas davon entfernt liegenden, strohgedeckten Halle, neben der einige Nebengebäude um einen Innenhof gruppiert waren. Von diesen Gebäuden aus fiel das Gelände in langen, sanften Wellen zur Talsohle hin ab. Zu Bocton, wie dieser Ort hieß, gehörten viele Felder, Apfelhaine und Eichenwälder sowie ein alter Steinbruch, aus dem früher einmal Kieselsandstein geholt worden war. Der Ausblick von diesem Ort war bemerkenswert. Von Bocton aus nach Süden blickte man auf ein weites, hügeliges Tal, den »Weald« von Kent. Es war nicht nur sein Elternhaus, sondern dieser umfassende Blick auf den Weald, der Cerdic, den Sachsen, wissen ließ, daß er zu Hause war.
Aber diesmal war er nicht gekommen, um sich an dem Ausblick zu erfreuen. Er wollte am nächsten Morgen bei einem Nachbarn vorbeischauen, und von dieser Absicht hatte er niemandem etwas erzählt.
Offa und Ricola fügten sich erstaunlich rasch in ihre neue Lage und wurden schon wieder frohgemut, noch bevor sie ihr neues Heim erreicht hatten. »Wir werden nicht lange Sklaven bleiben«, versicherte Offa seiner Frau. »Mir wird schon etwas einfallen.«
Am Tag nach ihrer Ankunft wurde Offa befohlen, den Männern bei der Ernte zu helfen. »Du wirst unter dem Vorarbeiter meines Mannes arbeiten und tun, was er dir befiehlt«, erklärte Elfgiva. Als ihr persönlicher
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