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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Material, mit dem die Mauern bedeckt werden sollten, bestand aus aufgewärmtem Dung, vermischt mit Stroh.
    Trotz der Kälte wollte sich Osric am Ende eines solchen Arbeitstages gründlich reinigen, und deshalb ging er oft hinunter zur Themse und sprang mit all seinen Kleidern ins Wasser, bevor er in seine Hütte zurückeilte, wo er sich am Kohlenbecken trocknen konnte. Bei so einer Gelegenheit merkte er, daß es noch einen anderen Menschen im Lager gab, der im Morgengrauen und am Abend zum Fluß hinunterging, um sich zu waschen – Dorkes. Sie war sehr sauber und sehr still – dies war das erste, was Osric an ihr auffiel. Körperlich schien sie nicht sehr weit entwickelt zu sein. Eine kleine Maus, dachte er und lächelte sie an, wenn er ihr zufällig begegnete.
    Seit seinem Auftrag für Alfred und Barnikel vor drei Jahren hatte es keine weiteren derartigen Abenteuer gegeben. Bis auf einen Aufruhr im Norden war es in England ruhig geblieben. Osrics Leben war erträglich. Natürlich bestand ein Großteil seines Tages nach wie vor aus reiner Schufterei, doch er hatte auch einen neuen Zeitvertreib gefunden. Er hatte es sich angewöhnt, Holzabfälle zu sammeln oder die Zimmerer zu bitten, ihm Reste zu überlassen. Abends setzte er sich dann neben das Kohlenbecken und schnitzte an diesen Holzstücken herum, bis daraus eine kleine Figur, ein Spielzeug oder ähnliches entstand. Bald nannten ihn die Zimmerer und Schreiner liebevoll »kleiner Künstler«.
    Die großen Kellerräume des Towers waren inzwischen fertiggestellt; riesige Querbalken und ein Bretterboden bedeckten sie bis auf die südöstliche Ecke, in der es ein Steingewölbe gab. Vor der Wendeltreppe, die zum Keller hinunterführte, gab es bereits ein massives, mit Eisenbeschlägen versehenes Eichentor, das man mit einem großen, von Alfred gefertigten Schlüssel abschließen konnte. »Dort unten werden die Waffen der gesamten Garnison gelagert werden«, hatte der Vorarbeiter Osric erklärt.
    Die Wände des Hauptgeschosses wuchsen rasch. Wie bei normannischen Festungen üblich, führte eine breite, hölzerne Außentreppe zum Haupteingang. Die Wände waren fast so dick wie die Kellerwände, aber es gab zahlreiche Erker, die zu schmalen Fenstern und anderen Öffnungen führten. Zwei davon faszinierten Osric besonders. Der erste maß etwa drei Meter im Durchmesser und befand sich an der Westwand der Haupthalle. Man konnte in ihn hineingehen wie in einen kleinen Raum, und wenn man nach oben blickte, sah man, daß er etwa vier Meter hochgemauert war und daß knapp unterhalb des oberen Randes ein kleines Loch in der Wand nach draußen führte.
    »Wofür ist das denn?« wollte Osric wissen.
    Die Maurer lachten. »Für das Feuer«, erklärten sie ihm. »Die Halle des Königs wird sich genau über diesem Raum befinden, und statt eines Kohlenbeckens in der Mitte, von dem Rauch durch die Bodenbretter nach oben dringen würde, will er diese Feuerstellen. In Frankreich haben sie auch solche, und im Ostzimmer soll es noch so ein Ding geben.«
    Und so kam es, daß das Königreich England im Tower von London die ersten gemauerten Feuerstellen erhielt. Diese Feuerstellen hatten jedoch noch immer keinen richtigen Kamin; der Rauch zog durch ein Loch in der Wand ins Freie ab.
    Noch zwei andere kleine Räume an der Nordseite kamen Osric seltsam vor. Es gab jeweils einen kleinen Gang, der zur Außenseite der Wand führte, wo in einer Nische eine Steinbank mit einem Loch stand. Durch das Loch hindurch blickte Osric in einen kurzen, steilen Schacht, der hinaus ins Freie führte, und von dieser Stelle aus ging es gut sechs Meter hinab. »Die Franzosen nennen es Garderobe«, erklärte der Maurer. »Unten an den Schacht fügen wir noch eine Holzrinne an, und so kommt dann alles in die darunter liegende Grube.«
    An einem warmen Juniabend saßen ein paar ziemlich betrunkene Männer am Flußufer, als Dorkes zum Fluß hinabging, um sich rasch Arme und Gesicht zu waschen. Als sie an den Männern vorbeikam, hielt einer von ihnen sie fest und rief: »Ich habe eine Maus gefangen! Gib uns einen Kuß!«
    Dorkes wußte nicht, wie sie mit den Betrunkenen umgehen sollte. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich loszureißen. Der Mann grabschte nach ihren kleinen Brüsten. Doch da traf ihn etwas.
    Es war Osric, der sich, ohne zu zögern, so heftig auf den Burschen stürzte, daß der Mann zu Boden ging, obwohl Osric nur halb so groß war wie er. Kurz dachte Osric zwar, der Mann würde ihn in den Fluß

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