Long Dark Night
hier haben wir nur einen Paragraph 265, Absatz 1.«
Er wandte sich an Jamal.
»Sie können auch gehen«, sagte er. »Ihre Waffe behalten wir aber.« 6
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Wenn man die Friedhofsschicht erwischt, hat man so gegen acht, neun Uhr morgens Dienstschluß, manchmal später, wenn einem überraschend eine Leiche aufgehalst wird. Wenn man Glück hat, ist man also um neun, halb zehn zu Hause, je nach Verkehr. Man drückt Frau und Kindern einen Kuß auf die Wange, trinkt ein Glas Milch, ißt eine Scheibe Toast und taumelt so gegen zehn, halb elf ins Bett. Wenn man sich nach ein paar Tagen an die Nachtschicht gewöhnt hat, schläft man tatsächlich mal acht Stunden durch und wacht danach ausgeruht auf. Dann ist man abends um sechs, halb sieben wieder auf den Beinen. Man ißt zu Mittag oder zu Abend, oder wie auch immer man es nennen will. Anschließend hat man bis gegen elf Uhr frei. Zu dieser späten Stunde sollte man eigentlich nicht mehr als eine halbe oder dreiviertel Stunde bis zum Revier brauchen.
Während man schläft, sich seiner Familie widmet oder Zeit mit seinen Freunden verbringt, geht es im Revier hektisch zu. Eine Polizeidienststelle hat rund um die Uhr geöffnet, sieben Tage in der Woche, jeden Tag im Jahr. Deshalb wirkt sie auch so heruntergekommen und schäbig. Verbrecher machen nie Feierabend, ein Polizeirevier auch nicht. Während Carella und Hawes schliefen, arbeitete die Tagschicht von Viertel vor acht morgens bis Viertel vor vier am Nachmittag, und dann übernahm die Nachtschicht. Und während Carella mit Teddy und den Zwillingen aß und Hawes mit Annie Rawles bumste, fand die Nachtschicht einiges heraus und ermittelte in anderer Richtung, aber nur ein Teil davon hatte mit ihren beiden Mordfällen zu tun.
Zwischen 9 Uhr 15 an diesem Sonntag morgen, als Carella und Hawes das Revier verließen, und 23 Uhr 45, als sie den Dienst wieder antraten, geschah so einiges da draußen.
Einiges davon würden sie später erfahren. Einiges würden sie nie erfahren.
Um halb zehn an diesem Sonntag morgen standen zwei der Richards auf dem leeren Parkplatz gegenüber dem Großmarkt, der vor einiger Zeit Pleite gemacht hatte, und warteten darauf, daß die beiden anderen Richards mit neu gefüllten Wassereimern zurückkamen. Es war ihnen ganz gut gelungen, den Kofferraum des Wagens zu säubern, und nun wollten sie dafür sorgen, daß auch nirgendwo sonst Blutflecke zurückblieben. Zwei von ihnen waren losgetigert, um an einer Autowaschanlage drei Blocks entfernt, unter dem Expressway, frisches Wasser und neue Lappen zu besorgen. Dieser Teil von Riverhead war um halb zehn an einem Sonntagmorgen praktisch verlassen. Kaum ein Wagen fuhr über die Autobahnüberführung. Leere Fensterrahmen mit einigen wenigen verbliebenen Glasscherben darin starrten wie augenlose Höhlen aus aufgegebenen Gebäuden. Mittlerweile schien die Sonne, doch in der Luft lag der Geruch von Schnee. Richard Löwenherz wußte, wann Schnee fallen würde. Diesen Sinn hatte er als Kind entwickelt. Er hoffte, daß der Schnee nicht versauen würde, was er im Sinn hatte. Er erzählte Richard dem Zweiten, wie er die Sache sah.
»Der Tod des Mädchens war ein Unfall«, sagte er. »Das war doch nur ein dummes Spiel.«
»Nur ein Spiel«, sagte Richard der Zweite.
»Sie hätte uns sagen können, daß sie keine Luft mehr bekam.«
»Das wäre nur vernünftig gewesen.«
»Aber sie hat es nicht gesagt. Woher sollten wir das denn wissen?«
»Wir konnten es nicht wissen.«
»Es war praktisch ihre eigene Schuld.«
»Bist du gekommen?« fragte Richard der Zweite.
»Ja, sicher.«
»Ich nicht.«
»Tut mir leid, Richard.«
»Bei dreihundert Mäusen wäre ich ganz gern gekommen.«
»Weißt du, ich glaube, er hat das Geld eingesackt.«
»Wer?«
»Richard. Er hat ihr Geld genommen und die Jumbos, die er ihr vorher gegeben hat. Neunhundert Mäuse und zehn Jumbos. Du hast ihre Handtasche doch auch nicht gesehen, oder? Als wir sie zum Wagen getragen haben?«
»Nein, hab ich nicht, wenn ich genau drüber nachdenke.«
»Ich bin überzeugt, er hat ihre Tasche mit dem Geld und den Jumbos gestohlen. Und so werden wir ihm diese Sache anhängen.«
»Ihm was anhängen?«
»Den Unfall des Mädchens. Yvonne. Oder wie auch immer es hieß.«
»Ciaire, glaube ich. War ich doch nur gekommen, bevor sie ohnmächtig wurde.«
»Tja, das war ihre Schuld.«
»Trotzdem.«
»Wir müssen diese Tasche finden, Richard.«
»Welche Tasche meinst du?«
»Sie ist nicht im
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