Lord Camerons Versuchung
lehnte sich an seine breite Brust und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Gavina war so ein hübsches kleines Kind gewesen, so vollkommen. Sie hatte so selbstverständlich in Ainsleys Armen gelegen, als ob sie gewusst hätte, dass sie dorthin gehörte. Sie hatte nur einen Tag gelebt, einen wundervollen Tag, und dann war sie immer schwächer geworden und war gestorben. Ihr kleiner Körper lag jetzt neben Ainsleys Eltern begraben.
Camerons Hände waren warm und tröstend, er war so groß und stark. Der Mann, der Ainsleys Körper dazu bringen konnte, vor Leidenschaft zu singen, tröstete sie jetzt und ließ sie wissen, dass er ihren Kummer verstand.
Sie hätte hier bleiben wollen für den Rest ihres Lebens, in diesem Zimmer, in seinen Armen, und vollkommen glücklich sein.
Jemand rüttelte am Türgriff, und dann kam ein Klopfen, gefolgt von der ausdruckslosen Stimme eines Dieners. »Mylord? Ihre Majestät erwartet Sie jetzt.«
»Verdammt«, flüsterte Cameron.
Ainsley hätte am liebsten dasselbe gesagt. Sie löste sich von Cameron und trocknete sich die Tränen.
»Triff mich morgen Vormittag hier«, sagte Cameron rasch. »Um neun Uhr. Kannst du das tun? Ohne eine verdammte Widerrede?«
Damit er weiter in ihrem Leben herumstocherte und sie erneut fragte, warum sie nicht einfach mit ihm auf und davon ging? Aber er verdiente es, die Gründe zu erfahren. Ainsley nickte.
Cameron beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie hart und ging zur Tür, an die noch immer der Diener klopfte. »Ja, ja, ich komme.«
Er öffnete die Tür, schützte Ainsley mit seiner Gestalt vor dem Blick des Dieners, dann schloss er sie wieder und war fort. Ainsley blieb allein zurück, allein mit ihren Tränen.
Fünf Minuten vor neun am nächsten Morgen wartete Ainsley im Salon. Allein. Fünf Minuten nach neun war sie immer noch allein, ebenso halb zehn. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte laut, durchdringende Schläge zeigten die Viertelstunden an.
Cameron war immer noch nicht gekommen.
Als die Uhr fünf Minuten vor zehn zeigte, betrat ein Hausmädchen den Salon. Sie ging zu Ainsley, knickste und reichte ihr ein gefaltetes Stück Papier: »Für Sie, Ma’am.« Das Mädchen knickste wieder und verließ das Zimmer.
Ainsley faltete das Blatt auseinander und sah darauf einige Worte stehen, geschrieben in einer kühnen Handschrift.
Daniel tut nie das, was ich ihm sage. Ich bin auf dem Weg nach Glasgow, wo er in einen Streit verwickelt ist. Du hast gewonnen, Maus. Im Zug von Doncaster, nach dem St.-Leger-Rennen. Der Schaffner wird wissen, wo ich zu finden bin.
À bientôt.
Ainsley faltete das cremefarbene Papier zusammen und presste die Lippen aufeinander.
Als sie sich dann für die Nacht in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, setzte sie sich hin und schrieb einen langen Brief. Sie adressierte ihn an Lady Eleanor Ramsey, die in der Nähe von Aberdeen bei ihrem Vater lebte, und gab ihn am nächsten Morgen auf. Ainsley hatte genügend Geld für eine Fahrkarte für den Zug von Aberdeen nach Edinburgh beigelegt und teilte Eleanor in strengem Ton mit, dass sie es dafür verwenden solle.
Einige Tage später saßen sich Ainsley Douglas und Lady Eleanor Ramsey an einem Ecktisch der Teestube im Hauptbahnhof von Edinburgh gegenüber. Um diese frühe Tageszeit war die Teestube noch recht leer. Ein Zug stand abfahrbereit am Bahnsteig, Dampf quoll aus der Lokomotive, die wie ein großes schwarzes Schiff aussah.
Ainsley hatte Eleanor eine ganze Weile nicht gesehen. Die beiden hatten sich jedoch regelmäßig geschrieben. Ihre Mütter waren enge Freundinnen gewesen und hatten beide zur selben Zeit im Dienst der Königin gestanden. Die Königin hatte auch Eleanor, höherrangig geboren als Ainsley, in ihre Dienste nehmen wollen, aber der alte Lord Ramsey hatte seine Tochter unter Tränen angefleht, bei ihm zu bleiben, und diese hatte es ihm nicht abschlagen können. Eleanors Vater war keinesfalls schwächlich oder gar kränkelnd, aber auch Ainsley war der Überzeugung, dass er ohne Eleanor völlig verloren wäre. Diese Tatsache mochte auch erklären, warum Eleanor keinen der Heiratsanträge angenommen hatte, nachdem sie Hart MacKenzie vor Jahren bekanntlich den Laufpass gegeben hatte.
Eleanor hatte niemals den Grund genannt, warum sie ihre Verlobung mit Hart gelöst hatte, auch wenn Ainsley glaubte, ihn zu ahnen. Hart war über die Auflösung der Verlobung mehr als wütend gewesen und hatte kurze Zeit darauf die Tochter eines englischen Marquis geheiratet. Die
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