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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Bewohner entsprach der Mode zahlloser verschiedener Epochen von der Antike bis zur Neuzeit. Wir spazierten durch eine Phantomstadt.
    »Überrascht, mein Freund?« fragte Gamma.
    »Ich bin nicht dein Freund.« Mein Blick traf Prills Augen.
    Gamma runzelte leicht gekränkt die Stirn. »Sicher doch, sicher …« murmelte er. »Nun?«
    »Ich bin überrascht, ja«, gab ich zu. »Wie ist das möglich?«
    »Alles zu seiner Zeit, Stan. Wir laufen weiterhin Gefahr, von Assemblern gestellt zu werden. Außerdem könntest du …« Gamma hielt abrupt inne und sah in den Himmel. Ich folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts entdecken. »Das ist jetzt kein Thema«, entschied er.
     
    Die Menschen auf den Straßen waren ein seltsames Phänomen. Obwohl sie miteinander sprachen, vernahm man in der gesamten Stadt keinen Ton. Die einzigen Laute waren die Geräusche unserer Schritte. Das Eigenartigste an den Menschen aber war ihre Erscheinung selbst: Keiner von ihnen schien vollständig vorhanden zu sein. Konzentrierte ich mich auf ihre Gesichter, verblaßten ihre Körper von der Hüfte abwärts und erweckten den Anschein, als besäßen die Bewohner keine Füße. Konzentrierte ich meine Blicke auf ihre Füße, verlief die Transparenz entgegengesetzt, und die Menschen trugen keine Köpfe mehr auf ihren Schultern. Niemand schenkte uns Beachtung. Die meisten Bewohner hatten sich zu kleineren, rege miteinander diskutierenden Gruppen zusammengefunden. Zentren der Gespräche schienen Vertreter einer bestimmten Kaste zu sein, die wild gestikulierend auf die Umstehenden einredeten. Einige Menschen (konnte man sie überhaupt so nennen?) hielten sich in der Nähe der Diskussionsrunden auf, beteiligten sich aber nicht aktiv an ihnen, sondern lauschten den lautlosen Wortgefechten nur aufmerksam.
    »Was tun all diese Leute hier?« fragte ich Gamma, der zielstrebig durch die Kolonie wanderte.
    »Sie sondern Informationen ab. Für das Sublime.«
    »Aber – sie scheinen nicht real zu sein.«
    »Sie sind es, Stan. Viel realer als du und dieser Klon-Körper. Sie leben in jeder Zeit.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »In jeder Zeit gleichzeitig«, präzisierte Gamma. »Es sind vierdimensionale Wesen. Das, was du von ihnen wahrnimmst, sind lediglich ihre Zeitschatten. Sie haben den Zustand starrer Materie hinter sich gelassen. Du würdest sie aufgrund ihrer Wesensart als Geister bezeichnen. Die Lords nennen sie Paragone. Früher oder später werden die Kolonisten in den Bunkern dieses Stadium ebenfalls erreichen.« Er blieb stehen. »Du hingegen bist dank deiner physischen Beschaffenheit eine Urform.« Gamma zeigte ein befremdliches Lächeln, das ich bei Prill noch nie zuvor gesehen hatte. »Obwohl ich mir da inzwischen nicht mehr ganz sicher bin.«
    Was er damit meinte, behielt er für sich. Erneut fiel mir auf, daß Gamma sich verbal von den Lords abgrenzte. Wenn er keiner von ihnen war, was war er dann? Und wer waren die anderen, von denen er sprach? Eine Art Widerstandsbewegung? Angehörige derselben Spezies, die ihre Ehre verloren hatten? Ein kleines Puzzleteil mehr auf dem Tisch der Geheimnisse.
    Vorsichtig näherte ich mich einem jener Phantom-Kolonisten, die sich etwas abseits der Diskussionsgruppen aufhielten. Dabei fiel mir eine weitere Seltsamkeit auf: es gab keine Gerüche. Keine Gerüche der Stadt oder ihrer Bewohner. Eine Stadt stank nach Abgasen, nach Gastronomie und menschlichen Körpern. Ich roch nichts dergleichen, nicht einmal Kaminrauch, Parfüm oder Schweiß, nur das Aroma der nahen See. Badeten Geister in Astralwasser, um sich rein zu halten? Als ich meine Hand ausstreckte, um den Kolonisten an der Schulter zu berühren, wandte der sich um und sah mir halb überrascht, halb amüsiert in die Augen.
    »Bonjour, Monsieur Ternasky«, begrüßte er mich.
    Ich starrte ihn an, räusperte mich. »Sie – können mit mir sprechen?«
    »Wie Sie hören«, bestätigte der Mann. »Seit ich Ihrer gewahr wurde – also seit exakt 9,73 Sekunden.« Er sagte es, ohne auf eine Uhr geblickt oder nachgedacht zu haben.
    »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    »Oh, Sie werden ein bedeutender Mensch gewesen sein.« Sein französisch akzentuiertes Futurum exaktum irritierte mich. »Ich heiße Jerome«, stellte sich mein Gegenüber vor. »Sie sehen mich erfreut, Stan. Ich darf Sie doch Stan nennen, oder?« Er hielt mir die Hand hin. Ich nahm und drückte sie, ließ abrupt wieder los und sah Jerome verwirrt an.
    »Überrascht Sie das?« fragte er.
    Mich überlief

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