Lord Gamma
ein Schauer. »Ich dachte für einen Moment nur, daß ich … gar nicht in der Lage sein dürfte, Sie zu berühren.«
»Man vermittelt Ihnen soviel von ihrer stofflichen Welt, daß Sie in dieser Ebene als Mensch existieren können, ohne Ihren Verstand zu verlieren.« Jerome – oder zumindest das, was ich von ihm sah – war etwa Mitte fünfzig und besaß den (Rest)Körper eines Genußmenschen: rosige Backen, einen roten Schnauzbart, der in Ruhestellung den gesamten Mund verdeckte, einen krausen roten Haarkranz, eine rote Schnapsnase und lustige, von Falten umrahmte Augen. Daß er fast einen Kopf kleiner war als ich, glich er durch seine beachtliche Leibesfülle wieder aus. Er war in einen seltsamen grauen Dreireiher gekleidet, steckte nun die fleischigen Hände bis auf die Daumen in die Westentaschen und grinste mich an.
»Wollen Sie wissen, was mit Ihnen geschehen würde, wenn Ihr Kraftfeld kollabiert?« fragte er. »Sie wären exakt 16,23 Sekunden lang ein mustergültiges Anschauungsobjekt für die Chaos-Theorie. Und danach nichts mehr. Ich meine buchstäblich: Nichts! Sie würden aufhören zu existieren. Diese letzten 16,23 Sekunden aber, Stan, wären die schlimmsten Ihres Lebens.« Jerome grinste. »Doch nichts für ungut. Hier, sehen Sie!« Er streckte seine Hand aus und schwenkte sie durch meinen Kopf, als wäre der nicht vorhanden. »Es hat schon alles seine Richtigkeit. Ich freue mich, Sie persönlich kennengelernt zu haben. Au revoir.« Mit diesen Worten ließ er mich stehen und wandelte von dannen.
Gamma war ein paar Schritte entfernt stehengeblieben und hatte das Geschehen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt. Ihm war nicht anzusehen, ob er angesichts der Gefahr, von Nikobals Spürläufern eingeholt zu werden, über meine Trödelei verärgert war oder sich über die Unterhaltung amüsierte.
»Von was für einem Kraftfeld sprach dieser Kerl?« fragte ich, als wir unseren Marsch durch die Kolonie fortsetzten.
»Er wollte damit andeuten, daß du dich in einer Ebene aufhältst, die mehr Dimensionen besitzt, als gesund für dich wären«, erklärte Gamma.
»Du meinst, daß mir die Zeit gefährlich werden könnte?«
»Zeit verläuft nicht kontinuierlich, Stan, sondern besteht aus winzigen Teilchen, die wie Perlen an einem Faden aufgereiht sind. Du selbst hast vielleicht die Illusion, sie als etwas Beständiges wahrzunehmen. In Wirklichkeit bestehen sämtliche Zeitintervalle aus Lücken, die für dich zeitlos sind und die du niemals wahrnehmen oder messen könntest. Lücken, in welche die elementaren Zeiteinheiten, die zu anderen Universen gehören, hineinpassen. Damit kann eine unendliche Reihe von realen, ausgewachsenen Universen in die Lücken zwischen den Quantenereignissen dieses für dich existierenden Universums eingefügt werden. Durch den Raum, in dem wir uns gerade bewegen, könnte ein Elefant durch den Dschungel eines anderen Universums streifen, oder ein Komet könnte ihn durchqueren, oder ein Fluß diesen Ort kreuzen. Nimm Zeit nicht als etwas Selbstverständliches hin, Stan. Sie umgibt dich in dieser Ebene in ihrer Ganzheit. Das Kraftfeld bewahrt dich vor ihrer Wirkung. Du kannst es nicht wahrnehmen, aber Jerome. Alle Zeit zu erfahren, würde deinen Geist und deinen Körper vom Anfang des Universums bis zu dessen Ende sprengen. Dieser Zustand wäre von Dauer, da der Zeitraum vom Anfang bis zum Ende immer bestehen bleibt. Er besitzt die gleiche Gültigkeit wie die Straße, die du hinabgefahren bist. Sie behält immer dieselbe Länge, egal, ob du am Anfang stehst oder ihr Ende erreichst. Solltest du irgendwann also das Ende des Universums erleben, dann glaube nicht, daß das Universum deshalb aufgehört hat zu existieren. Einzig du bist an seinem Ende angekommen.« Gamma sah über die Schulter. »Wie fühlst du dich?« fragte er.
Ich atmete tief durch. »Wie eine in die Luft geworfene Sahnetorte«, gab ich zu.
»Hm. Das ist gut. Es sollte also in deinem Interesse liegen, zu kooperieren.«
Ich verlangsamte meinen Schritt, was Gamma nicht zu stören schien. Er setzte seinen Weg unbeirrt fort, und mir war, als umspielte ein Lächeln seine Lippen. So lief der Hase also … Zuckerbrot für Folgsamkeit, die Peitsche für Ungehorsam. Über die Feinregulierung wollte ich gar nicht erst nachdenken. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen, daß mich mein Mentor nur an der langen Leine hielt? Spätestens nach Nikobals Aussage, daß die Ebene und die Stationen vierdimensional beschaffen
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