Lord Gamma

Muttersprache. Selbst ihn ließ die Szenerie, die sich uns offenbarte, nicht unberührt.
    Ebenfalls am Rand der Plattform angelangt, ließ ich meinen Blick über die Menschenlandschaft schweifen. Der Pyramidenstumpf, auf dem wir uns aufhielten, war nicht der einzige in der Ebene. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte erhoben sich in gleichmäßigen, kilometerweiten Abständen zueinander. Obwohl ich es nicht genau erkennen konnte, vermutete ich, daß auf jedem von ihnen ein Morner über ein Kontrollpult wachte. Die Bauwerke unterteilten die Ebene in riesige, quadratische Parzellen. Symmetrie und Ordnung beherrschten auch diesen Ort. Nach linearen Straßen und Stränden, aneinandergereihten Weltenbausteinen und kreisrunden Subebenen nun ein geometrisches Arrangement im Ambiente einer Leichenhalle. Das Sublime schien gänzlich aus Mathematik zu bestehen, aus formgewordener kosmischer Sprache, so unglaublich komplex im Wesen und dennoch so simpel im Aufbau. Was hatten die Enoe behauptet: es vergehe in Algorithmen? Selbst sein Tod vollzog sich noch als mathematisches Paradigma.
    Zwischen den Schläfern entdeckte ich vereinzelt weitere Morner. Sie bewegten sich mit der Akkuratesse von Wartungsrobotern durch die Reihen der Liegenden, blieben an jedem Quader, den sie passierten, für einen Moment stehen und schritten dann zum nächsten. Etwa vier Kilometer von uns entfernt schwebte ein Dragger in geringer Höhe über der Ebene. Er hatte seinen Kurs geändert und bewegte sich auf uns zu. Weit entfernt, nur noch als winziger schwarzer Punkt am Horizont auszumachen, erkannte ich eine zweite Flugmaschine. Vom Kontrollpult, in dessen Nähe ich stand, erklang ein melodischer Ton. Gennard trat heran und sah konzentriert auf das Paneel. Dann bediente er mit unnatürlicher Flinkheit die Konsole, worauf der anfliegende Dragger wendete und seinen ursprünglichen Kurs wieder aufnahm.
    Der Lunide sah in die Ferne, ließ die endlose Weite auf sich wirken. »Projektebene 1«, erklärte er dann, ohne uns anzusehen. »Die Superzelle. Hier fließen sämtliche Informationen zusammen, die wir von den Paragonen in den Projektebenen gewinnen, insbesondere aus Ebene 866 094. Jene, die der zerebralen Neustrukturierung zweckdienlich sind, werden verwendet. Alle übrigen – Träume, nutzlose Gefühle oder Erfahrungen – werden gelöscht. Unser Ziel war die absolute Beherrschung des Geistes, die Harmonisierung der Menschheit mit dem Sublime. Die Superzelle beinhaltet 7,4 Milliarden Individuen. Davon drei Millionen wissenschaftshistorische Exemplare aus sieben Jahrtausenden. Hier ruhen die gespeicherten Völker der Erde.«
    Ich sagte: »Aber das würde bedeuten …«
    »… daß die Erde entvölkert ist«, vollendete Gennard. »Der Planet ist rein, bereit für die Neubesiedlung.« Er sah auf das Kontrollpaneel. »Wir befinden uns hier in Sektor 6020«, las er ab, »Nordamerikanischer Kontinentalarchipel. Transferjahr 2283. Männliche Individuen zwischen zwanzig und vierzig Lebensjahren. Herkunft: Seattle und Vororte. Dort hinten« – er deutete nach links – »Sektor 6019; weibliche Individuen, dieselbe Herkunft, dieselben Kriterien. Rechts von uns, in etwa drei Kilometern Entfernung: Sektor 6021: weibliche Individuen gleicher Herkunft, Alter zwischen vierzig und sechzig. So geht es weiter, Stadt für Stadt, Sektor für Sektor. Die Superzelle besitzt eine Fläche von mehr als 120 000 Quadratkilometern. Sie besteht aus fünf Kontinentalsektoren: Nordamerika, Südamerika, Eurasien, Afrika und Ozeanien. Jeder dieser Kontinentalsektoren ist in Staatssektoren unterteilt, die Staatssektoren wiederum in Stadtsektoren, und letztere in Altersgruppen und Geschlecht. Wir stehen zweifellos in der größten Neuroklinik des Universums.« Er sah uns an. »Der Rat ist inzwischen über unsere Anwesenheit unterrichtet«, erklärte er. »Man wird uns erwarten.«
     
    Gamma war der erste, der die Pyramide verließ. Weder das Sublime noch der Morner unternahmen Anstalten, ihn daran zu hindern, hinabzusteigen und langsam durch die Reihen der Schläfer zu streifen. Der Lunide schwieg seinen Unmut mit versteinerter Miene in sich hinein, folgte dem Enoe jedoch nach. Mit einem finsteren Seitenblick erfaßte er, daß ich parallel zu ihm auf der anderen Seite des Kontrollpultes die Stufen hinunterschritt. Auch über Seetha siegte nun die Neugier. Sie erhob sich und lief mir hinterher, ging jedoch, als wir unten angekommen waren, wortlos ihrer eigenen Wege.
    Die Schläfer waren