Lord Gamma
sik!« antwortete die Stimme.
Gennard verzog gequält das Gesicht. Ich konnte nur raten, was der Wortwechsel zu bedeuten hatte. Offenbar war unsere Reise durch die Superzelle noch nicht zu Ende.
Seetha saß an einen der Quader gelehnt und weinte. Sie weinte ohne Rücksicht auf Stolz und Würde, wie ein kleines Kind … Das Sublime ließ uns mit unseren Emotionen allein.
Auf den Liegen um uns herum ruhten Säuglinge; Tausende und Abertausende, wie aufgebahrt. Keiner von ihnen atmete, und doch waren sie am Leben, gefangen in traumloser Stasis. Die meisten der Kinderkörper war nackt. Sie besaßen eine goldbraune Hautfarbe und ausnahmslos schwarze Haare.
»Sektor 14552«, informierte uns Gennard emotionslos nach der Kontrolle eines Schläferpaneels. »Indischer Subkontinent. Männliche und weibliche Individuen bis eineinhalb Lebensjahre. Herkunft: die Stadt Hydarabad.«
Ich atmete tief durch. »Ich hoffe, ihr habt wenigstens vor den Toten haltgemacht.«
»Je nach Standpunkt, Stan«, antwortete der Lunide.
Abermals hüllte uns das Licht ein. Einen Augenblick später befanden wir uns wieder in unmittelbarer Nähe einer Pyramide, umgeben von Menschen jeden Alters und Geschlechts. Die durchweg leichte Sommerbekleidung der Schläfer wirkte wesentlich vertrauter.
»Die wissenschaftshistorische Sektion«, verkündete Gennard. »Transferjahr 2019. Die Passagiere der Raleigh.«
Seetha reagierte aufgeregt. »Das ist das Schiff, auf dem …« Den Rest konnte ich nicht mehr verstehen, denn sie hatte sich umgedreht und damit begonnen, die Quader abzusuchen. »Vince!« rief sie plötzlich, als sie etwa dreißig Meter von uns entfernt war, und lief zielstrebig auf einen der Schläfer zu. Der Quader zu seiner Rechten, so erkannte ich, war verwaist. Wir folgten Seetha, die den Liegenden mittlerweile erreicht hatte. Nur das Sublime blieb zurück. Noch bevor wir bei Seetha ankamen, hörte ich, daß sie auf den Schläfer einredete. Er wirkte kaum älter als sie, war braungebrannt und trug wie viele andere um uns herum kurze Hosen und ein kurzämeliges Hemd. Seine Füße steckten in leichten Freizeitschuhen. Seetha hielt eine seiner Hände umklammert, während sie mit der anderen Hand durch sein braunes Haar strich.
»Bitte wecken Sie ihn auf!« flehte sie Gennard an, der sich achthabend an ihrer Seite postiert hatte.
»Nein«, entschied dieser.
»Das ist mein Bruder Vincent.« Seetha war völlig außer sich. »Ich möchte nur mit ihm sprechen. Bitte!«
»Noch nicht«, erklang die Stimme des Sublime hinter uns. »Dies ist kein Ort des Erwachens, Seetha. Der Kreis hat sich geschlossen. Für dich ist es nun an der Zeit, deinen Platz wieder einzunehmen.«
Seetha sah die Erscheinung an, dann auf den leeren Quader neben ihrem Bruder und schließlich zu mir. Sie wollte etwas sagen, aber kein verständliches Wort drang über ihre Lippen. In ihren Augen spiegelte sich mit einem Mal Angst. Sie hatte ihre Hände in das Hemd des Schläfers gekrallt und schüttelte den Kopf.
»Nein«, jammerte sie. »Nein, bitte nicht.« Dabei machte sie Anstalten, rückwärts zu gehen. »Ich – ich will das nicht!«
»Vertraue mir, Seetha«, sagte die Stimme sanft. »Dir wird nichts geschehen.«
»Nein!« Seetha ließ den Liegenden los und rannte davon.
Prills Körper löste sich in einem Lichtblitz auf und erschien einen Sekundenbruchteil später direkt vor Seetha. Diese stieß einen spitzen Schrei aus, hob schützend die Arme und rannte ungebremst in die Erscheinung hinein. Augenblicklich erlahmte Seethas verzweifelter Widerstand. Auch ihr Körper war nun von Licht umhüllt. Sekundenlang sahen sie und das Sublime einander schweigend an, dann lehnte sich Seetha an Prills Körper und weinte.
Ich werde Seetha sicher noch lange in Erinnerung behalten; vor allem ihren letzten Blick, mit dem sie uns ansah, ehe Gennard die Stasis-Liege aktivierte und sie in das Polster einzusinken begann. In ihren Augen lag ein Ausdruck aus Angst, Hoffnung und Endgültigkeit. Ihre Lippen bebten, als hätte sie das Bedürfnis, tausend Worte gleichzeitig zu sagen, ehe die Dunkelheit und – womöglich – das Vergessen sie umfing. Gennard wartete noch einige Sekunden, ehe er das Doppelkreis-Symbol auf dem Paneel berührte. Als Seetha die Augen schloß, wichen die Furcht und die Anspannung aus ihrem Gesicht. Sie hörte auf zu atmen – und in gewisser Hinsicht sogar zu leben.
Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, sah meine Finger zittern. Bewegt tauschte ich einen
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