Lord Gamma
Steigleiter hinaufzuklettern. Hoffentlich hielt ihre Noblesse bis zur Brücke.
»Schau hinauf zum Steg, nicht nach unten«, zischte ich.
Prill gab ein abfälliges Geräusch von sich. Als sie bereits zwei Drittel der Leiter bezwungen hatte, ertönte vom Eingang des Lifts her plötzlich ein leises, melodisches Summen, und Sekundenbruchteile später ein sehr verdächtiges Schleifgeräusch auf der Brücke. Ich schloß die Augen, ballte die Hände zu Fäusten. Idiot! hämmerte es in meinem Kopf. Mir hätte bewußt sein sollen, daß der Aufgang niemals ungesichert sein konnte. Eine der Sprossen mußte mit einem Druckfühler versehen gewesen sein, der bei Belastung anschlug, oder Prill hatte einen verborgenen Bewegungsmelder passiert, oder eine Lichtschranke. Was auch immer, der Wächter war alarmiert.
Prill geriet in Panik, versuchte zuerst, hastig weiter hinaufzusteigen, dann zurück nach unten. Ich vernahm das Schleifen der Kreatur über dem Steg. Als ich mit der Taschenlampe auf die Brücke leuchtete, entdeckte ich das Pflanzenwesen direkt über uns. Auch Prill sah nach oben, erblickte die Fangarme, die sich auf sie zuschlängelten, stieß einen Angstschrei aus und ließ sich in ihrer Konfusion einfach fallen. Ich duckte mich, sah uns beide schon haltlos in die Tiefe stürzen, doch Prill schlug nicht auf der Plattform auf. Sie verfehlte sie auch nicht, sondern hing – von einem halben Dutzend Ranken gehalten – zwei Meter über mir in der Luft. Das Wächterwesen hatte sie blitzartig aufgefangen und zog sie langsam zu sich auf die Brücke. Prill war vor Schreck verstummt, hing in den Tentakeln wie eine Stoffpuppe. Falls sie nicht das Bewußtsein verloren hatte, konnte ich mir sehr gut ausmalen, was nun in ihr vorging.
Im Schein der Taschenlampe sah ich ihre Atemwolken. Sie waren zu hektisch, als daß Prill ohnmächtig sein konnte. Ich wußte nicht, ob der Wächter mich ebenfalls bemerkt hatte, und begann, langsam und bedacht die Sprossen hinaufzusteigen. Prill murmelte etwas, während das Wesen sie auf die Brücke hievte. Es klang wie ein Gebet. Ich betete ebenfalls – daß sie nicht meinen Namen rief. Prill erlebte ihr Martyrium in nahezu völliger Dunkelheit. Ihre Stimme klang plötzlich gedämpft, wie erstickt, vermutlich aufgrund eines Blattes, das sich auf ihr Gesicht gelegt hatte.
»Prill«, erklang die polyphone Stimme des Pflanzenwesens, als es seinen Fang identifiziert hatte. »Würdest du mir bitte erklären, warum du nicht den Lift benutzt?«
Prill antwortete etwas, das sich wie eine Beschimpfung anhörte. Ihre Stimme zitterte. Ich hatte den Steg erreicht, aber der Wächter unternahm noch immer keine Anstalten, sich um mich zu kümmern. Auch das Licht der Lampe nahm er scheinbar nicht wahr. Drei Meter von mir entfernt, galt seine ganze Aufmerksamkeit der Frau. Ich sah einen seiner Tentakel zum Paneel am Lift kriechen, vermutlich, um das Rufsignal für eine Sicherheitseinheit zu drücken. Ich wußte nicht, wo bei der Kreatur vorne und hinten war, aber wahrscheinlich kehrte sie mir im Moment den Rücken zu. Prill sah mich über das Geländer klettern und bäumte sich im Griff der Ranken auf. Ich hielt mir den Zeigefinger vor die Lippen.
»Au!« schrie Prill jedoch und wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in den Fangschlingen der Pflanze. »Dieses Vieh hat mich gestochen!«
»Nur zu deiner Sicherheit«, erklärte der Wächter.
Ich richtete den Strahl der Lampe auf das Wesen und zielte mit der Waffe auf sein Gewirr aus Ranken, Blütenmündern und Blättern. Der Lichtstrahl bewirkte keine erkennbare Reaktion. Offenbar besaß die Kreatur wirklich keine Augen oder Organe, die auf Lichtreize reagierten. »Laß sie los!« rief ich. »Im Interesse deiner Sicherheit!«
Das Wesen zog Prill an sich und hielt sie wie ein Schutzschild vor seinen Leib. »Stan«, erkannte es mich an meiner Stimme. »Hast du denn schon wieder eine Wette verloren? Du willst doch nicht etwa nach draußen? Das darf ich nicht zulassen.«
»Auch nicht, wenn ich eine Pistole auf dich gerichtet halte?«
»Das Tragen und Benutzen von Schußwaffen ist in der Station nicht erlaubt«, informierte mich das Gewächs. »Leg die Waffe auf den Boden, Stan. Eine Sicherheitseinheit wird jeden Augenblick heraufkommen und euch beide …«
»Sei still!« unterbrach ich das Wesen gereizt. »Laß die Frau los und schick sie zu mir herüber, sonst schieß ich dich über den Haufen!«
»Irrationales Denken, Stan«, kommentierte das Wesen
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