Lord Gamma
wir ein Jahr alt waren. Wir wuchsen bei kinderlosen Pflegeeltern in Scarsdale auf, einem Vorort von New York. Dort wurden wir liebevoll aufgezogen, zwei Jungen, denen es an nichts fehlte.
Obwohl wir Zwillinge sind, entwickelte sich Hank von früh auf anders als ich. Die Welt schien immer irgendwie schneller zu sein als er. Wenn ich meine Pflegeeltern danach fragte, sagten sie nur, Hank wäre ein Träumer. Dann sahen sie einander vielsagend an, lächelten verlegen und schwiegen. Ich war damals noch nicht reif genug, um zu begreifen, was sie meinten.
Ich wurde Hanks einziger Verbündeter im Kampf gegen seinen Geist, der die Welt von ihm abdrängte; derjenige, der ihm beibrachte, wie man Fahrrad fährt oder Fußball spielt. Später unternahmen wir Radtouren in die Umgebung. Manchmal blieben wir sogar über Nacht weg, schliefen draußen im Heu und redeten über die Zukunft und wie das geht mit den Mädchen. Ich war der Fixstern seines Lebens, ohne es zu wissen, der Pfeiler, der seine Welt stützte.
Als ich mit zweiundzwanzig unser Elternhaus verließ und mit einem Mädchen aus Richmond zusammenzog, begann Hank – seines Verbündeten beraubt – innerlich aus der Familie zu emigrieren. Plötzlich stand ich für ihn auf der anderen Seite, war ein Teil der Bedrohung geworden. Das Mädchen aus Richmond war nebenbei bemerkt dein Original.
Mit vierundzwanzig verabschiedete sich Hank in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Richtung Süden. Er stellte sich einfach mit 1500 Dollar in der Tasche an den Highway. Sechs Jahre war er unterwegs, ohne daß jemand aus der Familie ein Lebenszeichen von ihm erhielt, kletterte durch die Appalachen, meditierte mit einer Sekte in Texas, jobbte in Mexiko für eine Minengesellschaft, und wenn er sich einsam fühlte, kämpfte er mit Drogen dagegen an, die immer billiger wurden, je weiter er nach Süden kam. Ich arbeitete zu dieser Zeit als Mechaniker in einer Autowerkstatt, begann nebenher zu fotografieren, immer nach Feierabend. Ich fotografierte New York und seine Menschen bei Nacht. Es gab keine einzige Aufnahme bei Tageslicht. Dann kam der Freund der Freundin eines Freundes, sah die Aufnahmen und legte sie einer Fotoagentur vor. Sie luden mich zu einem Gespräch ein, und nach vier Jahren Graberei in dreckigen Motoren war ich plötzlich Fotoreporter.
Als Hank zurückkehrte, war er braungebrannt und muskelbepackt, aber für ein bürgerliches Leben nicht mehr biegsam genug. Er heuerte als Koch auf einem Frachter an, ohne zu wissen, wie man Kartoffeln brät, wurde Matrose, Trucker und Veranstaltungsbetreuer. Planlos, wie ein Zufallsspieler beim Roulette, plazierte er seine Einsätze. Ein Treffer war nicht darunter. Zuletzt schleppte er als Hilfsarbeiter in einer Schlachterei Schweinehälften und stinkende Knochen, schnitt Fleisch in mundgerechte Stücke und sich selbst manchmal in den Finger. Weil das Pökelsalz die Wunden nicht heilen ließ, kündigte er nach drei Monaten und beschloß, ein völlig neues Leben zu beginnen. Er tat es wie jemand, der sich jeden Rückzug verbaut, weil er an der eigenen Entschlossenheit zweifelt: rasierte sich die Haare ab, heftete sich einen Superman-Button an die Brust und pinkelte vor den Augen anderer auf den Friedhof. Als er anfing, in Übermaßen zu Essen, weil er glaubte, jemand würde die Nahrung ständig wieder mit unsichtbaren Strahlen aus seinem Magen entfernen, schleifte ich ihn nach Caldwell in die Psychiatrie. Nichts aus Bosheit oder Bequemlichkeit, sondern weil unsere Pflegeeltern und ich mit unseren eigenen Mitteln und Möglichkeiten, ihm zu helfen, am Ende waren.
Die Anlage liegt im Grünen, am Passaic River. Sie ist ein großzügig angelegtes Dorf, das selbst dem vorurteilsbelasteten Besucher ein ›Nein-wie-ist-das-nett-hier‹ entlockt. Dort begegnete ihm Lynelle, die Inkarnation seiner sentimentalen Vorstellung vom Glück. Das erste freie Wochenende außerhalb der Klinik verbrachten sie in East Orange, wo Lynelle noch eine Wohnung hatte. Sie rannten über die Wiesen, lachten über jede Albernheit, schliefen miteinander und besetzten dann ein Motel, wo sie den Gästen Vorträge über Anarchie und das Ende des Kapitalismus hielten. Hank fühlte sich wie unter Drogen: berauscht, schwerelos und meilenweit entfernt von den Problemen, die er sonst mit sich und den Menschen hatte. Er komme nach Richmond, um mich zu besuchen, hatte er mir ausgelassen am Telefon erzählt. Ich hatte die Katastrophe nahen sehen, aber nicht an sie geglaubt.
Nach dem
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