Lord Gamma
Beziehung zu Lynelle über den Kopf wuchs. Als Lynelle das gemeinsame Kind abtrieb, schluckte er Schlaftabletten. Es war das Ende ihrer unheilvollen Verbindung. Die Ärzte beschrieben ihn zu dieser Zeit als ›grimmig gespannt, düster lauernd, mißtrauisch und reizbar‹. Sie registrierten eine ›ängstliche Ratlosigkeit, Antriebsschwäche und inhaltliche Denkstörungen‹. Er war mittlerweile das, was die Ärzte einen Drehtür-Patienten nennen, den immer wiederkehrenden Dauerfall, ein Heimatloser zwischen draußen und drinnen.
Eines Tages, in einem neuerlichen Anfall von Glückseligkeit, kaufte er sich einen Kanister Nitro-Verdünnung, setzte sich damit im Schneidersitz auf einen Bahnsteig und steckte mit einem Streichholz seine nitrogetränkte Kleidung in Brand. Ehe er sich ernsthafte Verbrennungen zuziehen konnte, hatten aufmerksame Bahnbeamte die Flammen bereits wieder gelöscht. Nach diesem Vorfall wechselte er im Krankenhaus von der ›Reparatur-Werkstatt‹ ins ›Parkhaus‹; in den Langzeit-Bereich. Dort sitzen die Bewohner zehn Stunden am Tag auf demselben Stuhl und wackeln mit dem Kopf, starren aus dem Fenster des Aufenthaltsraums oder schlurfen hundertmal über den Gang wie aufgezogene Puppen, mit kurzen, steifen Schritten und schiefgeneigtem Kopf. Zusammen mit unseren Pflegeeltern hatte ich eine Beschwerde gegen Hanks Unterbringung eingereicht, doch der zuständige Richter entschied in Einklang mit dem Chefarzt, daß ›in Anbetracht von Hanks Persönlichkeitsdefekten die Aussichten für eine Rehabilitation mehr als fraglich seien‹. Hank drohte ihm daraufhin Schläge an und wollte das Schwesternheim in die Luft sprengen. Seine Lebensamplituden klafften mittlerweile so weit auseinander, daß er sie selbst nicht mehr überblicken konnte. Am Ende war er ein Mensch, dessen Verhalten sich jeder Deutung entzog und dessen Riß im Kopf auch die Ärzte nicht mehr zu verschweißen vermochten.« Nach einer kurzen Pause sagte ich: »Ich bin sein Zwillingsbruder. Vielleicht tickt in mir die gleiche genetische Zeitbombe wie in Hank.«
Ich zündete mir eine Zigarette an, rauchte schweigend und fast so gierig wie Hank. Prill wirkte betroffen und ratlos, bat ebenfalls um eine Zigarette. »Hast du die aus den Stationen?« wollte sie wissen und drehte die John Players-Packung in den Fingern.
»Ja. Es sind keine gewöhnlichen Zigaretten, nur die Marken sind kopiert. Du mußt dich nicht erst an sie gewöhnen. Ihr Rauch besitzt dieselbe Wirkung wie der von echten Zigaretten, aber er schmerzt nicht und lagert keinen Teer in der Lunge ab. Vielleicht ist es ja gar kein Rauch, was weiß ich. Es ist mir egal. Ich glaube nicht, daß die Lords unsere Raucherlungen geklont haben. Diese Pseudo-Zigaretten sind jedenfalls nicht schädlich, sonst wären sie nachteilig für das Projekt.«
So saßen wir, rauchten und sahen in die Ferne.
»Eins verstehe ich nicht«, meinte Prill irgendwann. »Du sagtest, diese Lords hätten nur gesunde Menschen ausgesucht. Wie kam Hank dann an Bord des Flugzeugs?«
»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, erklärte ich. »Ein halbes Jahr vor unserer Verlobung …« Ich stockte, grinste verunglückt.
»Schon okay«, meinte Prill.
»Hm. Also, damals lud uns der leitende Arzt zu einem persönlichen Gespräch ein. Angesichts der minimalen Heilungschancen schlug er vor, es in Hanks Fall mit einer Laser-Stereotaxie zu versuchen. Es ist ein Verfahren zur Behandlung von Hirntumoren, wird aber aufgrund der Fortschritte in der Lasertechnik seit einigen Jahren auch erfolgreich bei schweren Psychosen angewandt. Ob Tumor oder Geisteskrankheit, letztlich ist es nur ein neuraler Defekt. Ich stellte mich entschieden gegen einen solchen Eingriff, meine Pflegeeltern meinten, sie brauchten Bedenkzeit. Während ich bald darauf für zwei Wochen im Auftrag meiner Agentur im Ausland unterwegs war, gaben sie ihre Erlaubnis für den Eingriff.
Als ich Hank wiedersah, war er ein anderer Mensch. Zahm, gesittet, freundlich, treuherzig, von geradezu edler Harmlosigkeit, ein Ritter der Einfalt. Unauffällig. Er erinnerte sich an alles, ob schön oder grausam, aber bewertete das eine wie das andere gleich. Ich war erschüttert und sagte meinen Pflegeeltern offen ins Gesicht, was ich über sie und das, was sie angerichtet hatten, dachte. Hank stand daneben und wirkte, als wäre er allen weltlichen Dingen entrückt. Seither habe ich die Fürsorge für meinen Bruder, der zwar funktioniert, aber zugleich für den Rest seines
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