Lord Gamma
Wochenende begleitete er Lynelle zurück in die Klinik, stahl den Wagen des Chefarztes und rammte ihn in einem irrationalen Glücksgefühl mit 100 Sachen auf gerader Strecke gegen einen Baum. Das Auto war ein Haufen Schrott, Hank selbst trug keine Schramme davon. Er sagte zu mir, es sei das Schönste gewesen, was er seit langem erlebt hatte. Ich fuhr ihn zurück in die Klinik. Hank erklärte, er fühle sich nicht krank, eher unverwundbar und voll überquellender Kraft. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits jene Schwelle übertreten, hinter der eine Region liegt, die wir fürchten. Er rannte gegen die Mauer an, die ihn von unserer Welt trennte, aber je heftiger er sich gegen sie warf, desto stärker prallte er von ihr zurück, bis er irgendwann die Kraft verlor. Ihm fehlte die Bremse im Kopf. Er raste wie ein steuerloser Wagen auf einer Gefällstrecke, ohne Möglichkeit, die Richtung seiner Fahrt zu bestimmen und immer mit dem Risiko, aus der nächsten Kurve zu fliegen. Als wir in der Klinik angekommen waren, hatte er sich mit der ganzen Kraft seines Körpers gegen die Beruhigungsspritze des Arztes gestemmt, der ihn nun als dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sah.
Die darauffolgenden Wochen verbrachte Hank in einem Zimmer ohne Griffe am Fenster und ohne Klinke an der Tür. Bewegen durfte er sich lediglich zwischen dem Schlafzimmer, dem Speisesaal, einem Aufenthaltsraum mit Fernseher und dem Raucherbalkon. Wenn ich ihn besuchte, schritt er meistens über den Flur, während er mit mir redete, mit weit ausholenden Schritten und pendelndem Oberkörper, weil Gehen, wie er meinte, die einzige Freiheit war, die er noch hatte. Hin und wieder schnorrte er Zigaretten von den Pflegern und verqualmte sie auf dem Balkon wie wertloses Altpapier; zog heftig und paffte ohne genießende Pause, bis der Rauch zu heiß wurde und nicht mehr schmeckte. Dann drückte er die Zigarette halb geraucht aus und zündete sich eine neue an. Die medizinische Dauerversorgung empfand er als Strafe. Er fluchte, schimpfte und schlug um sich. Dann telefonierten die Pfleger um Verstärkung, hielten ihn zu dritt fest, damit der vierte ihm die Spritze in den Hintern stoßen konnte; 100 Milligramm Neurocil, und abends die doppelte Menge. Es zerbröselte seine Wut, nahm ihm die Ausdauer und raubte seine Konzentration.
Nach acht Wochen zeigte Hank keine Auffälligkeiten mehr. Nach dem Urteil der Ärzte hatten die Spritzen die zirkuläre Verlaufsform der Psychose weggespült. Sie gaben ihm eine dreißigprozentige Chance, daß die Krankheit nicht wieder ausbricht, und entließen ihn in die Freiheit.
Dort hatte Lynelle mittlerweile ein Nest für das gemeinsame Leben gebaut, eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Hank bastelte und malte viel, Lynelle sicherte als Büroangestellte das Überleben. Sie stritten oft und liebten sich heftig. Das rauschhafte Glück des ersten Wochenendes mit Lynelle aber erlebte Hank nicht mehr. Er sah in der Beziehung plötzlich eine reine Bumsgemeinschaft, ein gegenseitiges Aussaugen, ohne wirkliche Nähe. Emotionslos zerlegte er die gemeinsame Wohnung: Er riß die Tapeten von den Wänden, zerkleinerte den Kleiderschrank, trat die Türen aus den Angeln und schmiß die Bücher vom Regal. Als er die Trümmer aus dem Fenster warf und im Hof anzündete, wurden Nachbarn aufmerksam und riefen die Polizei. Weil Hank bereits als ›Freitodsuchender‹ aktenkundig war, brachten ihn die Beamten wieder ins Krankenhaus. Seine Freiheit hatte keine vier Monate überdauert.
Die Diagnose lautete nun ›schizo-affektiv‹. Seine Angstgefühle hatten sich mit Wahnideen durchmischt, vermuteten die Ärzte. Der Oberpfleger ließ ihn ans Bett fesseln, eine, wie er mir sagte, vorbeugende Maßnahme zum Schutze des Patienten. Zusätzlich wurde mit einer Spritze in Hanks Hintern vorgebeugt. Da Hank seine Garderobe komplett vernichtet hatte, stellte ihm die Station das Nötigste zur Verfügung. Nach einer Phase strenger Medikamentierung und aufmerksamer Beobachtung öffnete man ihm erneut die Tür nach draußen.
In den folgenden zwei Jahren wurde Hank uns allen immer mehr zum Rätsel. Einmal verschenkte er alles, was er besaß, dann verbrannte er seine selbstgemalten Bilder. Ein andermal trampte er nach Florida. Als er zurückkehrte, spülte er seine Kleider durch die Zugtoilette und rannte nur mit Klopapier umwickelt durch die Abteile. Nie wußte er eine Antwort auf das Warum. Gelegentlich kam er freiwillig in die Klinik, wenn ihm die
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