Lord Gamma
glaube, das Thema interessierte mich einfach. Finden Sie es denn nicht beängstigend?«
Ich zucke die Schultern. »Wer weiß, ob dieser Bericht je existiert hat«, gebe ich zu bedenken.
»Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht ist es eine künstliche Erinnerung, die Ihnen eingepflanzt wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, je von einem solchen Vorfall gehört zu haben.«
»Dann lesen Sie womöglich zu wenig«, entscheidet die Frau. »Ausgabe 11, vom Juni 2019.«
»Ja«, überlege ich. »Vielleicht gibt’s dort draußen irgendwo einen Kiosk. Ich werde mir das Heft in zwei Jahren kaufen, sobald ich einen Weg hinaus gefunden habe …«
Seetha funkelt mich an. »Sie machen sich über mich lustig.«
»Tut mir leid.«
Eine Zeitlang reden wir beide kein Wort.
»Und Sie?« fragt Seetha irgendwann.
»Bitte?«
»Woran erinnern Sie sich noch?«
Ich denke nach. »An die Welt bei Nacht. An das Flugzeug, in dem ich saß. An den Mond, den ich aus dem Kabinenfenster erkennen konnte. Er leuchtete, wie ich es noch nie gesehen hatte. An das Mädchen aus Richmond, das neben mir schlief und sich geweigert hatte, auf dem Fensterplatz zu sitzen. Wir wollten heiraten«, erkläre ich Seetha. »Ihr Name ist Prill. Priscilla, um genau zu sein.«
»Mhm …«, macht Seetha. »Falls Sie sich Kinder wünschen, dann denken Sie an den Artikel.«
Ich schnaube belustigt. »Sagen Sie, wissen Sie noch, wo Sie dieses Magazin gelesen haben.«
»Nicht wirklich. Ich saß, und um mich herum hielten sich viele Menschen auf.«
»War es beim Friseur? Beim Arbeitsamt? In einem Restaurant? In der U-Bahn?« Die Frau schüttelt den Kopf. Ich spüre, wie ihre Gedanken rotieren. »Vielleicht die Wartehalle eines Flughafens?« hake ich vorsichtig nach. »Oder sogar in einem Flugzeug? Könnte es vielleicht sogar dieses Flugzeug gewesen sein?«
»Hören Sie auf!« Seetha starrt mich sekundenlang aus aufgerissenen Augen an, dann zu Boden. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortet sie schließlich. Ihre Stimme klingt, als würde sie jeden Moment anfangen zu heulen. »Wie – kann es denn dieses Flugzeug gewesen sein? Es gibt hier doch gar keine Sitze!«
Ich atme durch, lege mich auf den Rücken. »Als ich erwacht bin«, erzähle ich, »gab es hier noch nicht einmal einen Teppichboden.«
Seetha betrachtet den Teppich. »Und – woher kommt der dann?«
Ich drehe mich auf die Seite, stütze mich auf dem Ellbogen ab. »Sie werden es bald erfahren, glauben Sie mir.«
Seetha steht auf. Ein paar Sekunden lehnt sie an der Wand, als sei sie sich nicht sicher, ob sie auf zwei Beinen stehen kann, dann geht sie vorsichtig ein paar Schritte. Dabei hält sie ihre Arme ausgebreitet, als balanciere sie auf einem Bahngleis, darum bemüht, nicht zu laut aufzutreten, und von der Angst begleitet, wieder umzukippen. Ich bleibe sitzen und beobachte sie. Seetha läuft hinunter bis zum anderen Ende des Korridors, gewinnt von Schritt zu Schritt mehr Sicherheit, erkundet neugierig alle Räume, sieht aus den Fenstern, hinunter auf die Tragflächen und darüber hinaus in die Dunkelheit. Dabei fröstelt sie, sei es, weil sich jenseits der Schwärze nichts erkennen läßt, oder der Ort selbst ihr ein begründetes Unwohlsein bereitet. Hin und wieder stellt sie Fragen, und ich antworte ihr, soweit es mein bisheriges Wissen zuläßt. Den glatzköpfigen Kobold mit dem Koffer verschweige ich. Vielleicht bekommt sie ihn früher oder später selbst zu Gesicht.
Mit der Papierschwalbe in der Hand kommt Seetha schließlich wieder zu mir zurück.
»Haben Sie das gefaltet?« will sie wissen.
»Nein«, gebe ich zu. »Die kam auf die gleiche Weise hier hereingeflattert wie Sie. Ich habe mir schon Gedanken gemacht, ob dieses aufgemalte L vielleicht ein Fingerzeig unserer Gefängnisherren sein könnte.«
»Ein L?« Seetha läßt sich neben mir nieder und dreht die Papierschwalbe abschätzend in ihren Fingern. »Nein, kein L«, meint sie schließlich. »Sehen Sie, wäre es ein L, dann stünde es auf dem Kopf. Aber der Buchstabe sieht in Wirklichkeit so aus: Γ .«
Ich betrachte das Symbol. »Das ist ein kyrillisches Zeichen.«
»Oder ein griechisches«, wendet Seetha ein. »Ein großes Gamma.«
Alphard 6
»… STAN!«
Ich schreckte auf, sah mich benebelt um. Die Zigarette war bis zum Filter heruntergebrannt und kalt, ihre Asche auf meiner Hose und dem Sitz verteilt. Ich warf den Stummel aus dem Wagen und fuhr mir mit den Händen über Gesicht und Augen. Blinzelnd suchte ich
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