Lord Gamma
trinken«, sage ich.
Seetha zieht eine leidvolle Miene.
»Gedulden Sie sich noch eine Weile«, tröste ich sie. »Durst und Hunger sind nur Begleiterscheinungen des Erwachens und werden bald vergehen. Der wirkliche Durst kommt erst später.«
Sie schweigt, nickt dann. Ich halte sie weiterhin, sie scheint zu schlafen. Mir kommt es vor, als vergehe mehr als eine Stunde, bis sie fragt: »Wo sind wir hier?«
»In einer Flugzeugkabine«, antworte ich, durch ihre Stimme aus einem Dämmerzustand aufgeschreckt. »Aber fragen Sie mich nicht, wo sich das Flugzeug befindet.«
Seetha löst sich von mir, setzt sich an die Wand und sieht sich um. »Du lieber Gott …«, wundert sie sich. »Wie bin ich hierher gekommen?«
»Sie tauchten auf«, erkläre ich.
»Ich – tauchte auf?«
»Erinnern Sie sich nicht?« Ich setze mich neben sie. »Wir haben uns davor noch, mh … unterhalten. Ihr Name ist Seetha, nicht wahr?«
Die Frau sieht mich entgeistert an. »Nein«, sagt sie nach ein paar Sekunden.
»Nein? Sie heißen nicht Seetha?«
»Doch. Aber ich erinnere mich nicht, mit Ihnen gesprochen zu haben.« Sie versinkt in Gedanken. »Ich hatte einen Traum …«
»Wollen Sie ihn mir erzählen?« frage ich in der Hoffnung, möglicherweise etwas über jene dort draußen und den Ort zu erfahren, an dem man uns festhält.
»Ich glaube nicht, daß er Sie interessiert«, ziert sich Seetha. »Er ist – albern.«
»Erzählen Sie.«
Sie betrachtet ihre Füße, dann meine, als vergleiche sie die Anzahl unserer Zehen. »Na gut«, stimmt sie leise zu. »Ich – irrte durch einen Supermarkt …« Sie schaut mich an. »Interessiert es Sie immer noch?«
»Sicher.«
Sie schüttelt den Kopf. »Die Einkaufswagen waren so riesig wie Schulbusse, regelrechte Konsumwaggons, und die Pfandmarken, mit denen man sie füttern mußte, so gewaltig wie Pizzateller. An der Front jedes Wagens befand sich ein Gittercockpit mit einer langen Bank, auf der sich ein halbes Dutzend Personen drängte. Ganz links saß ein Angestellter des Marktes und brüllte mir durch ein Megaphon unablässig zu, was ich kaufen sollte, daneben sein Assistent, der alle Waren notierte, die ich tatsächlich in den Wagen lud, Seite an Seite mit einem wieseläugigen Kaufhausdetektiv, der mich pausenlos durch eine Videokamera beobachtete. Ein fürchterlich neugieriger Mensch. Neben dem Detektiv saß ein Polizist mit Sonnenbrille und spielte mit einem Paar Handschellen. Rechts von ihm ein dürrer Kerl mit weißer Lockenperücke, der mit einem Holzhammer bei sich selbst unentwegt Meniskusreflextests durchführte. Und ganz rechts so ein halbnackter, ungehobelter Kerl mit roter Klu-Klux-Klan-Mütze und einer großen Axt auf dem Schoß. Diese Leute hockten nicht nur auf meinem Wagen, sondern befanden sich auf jedem, der von einem Kunden durch die Gänge geschoben wurde. Und jedem Kunden schrie ein Marktangestellter eine andere Produktlitanei zu. Der ganze Supermarkt bebte vor Gebrüll, so daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Ich schob also diesen riesigen Waggon mit seiner sechsköpfigen Besatzung durch einen Supermarkt, der so gigantisch war, daß ein ganzer Tagesmarsch vonnöten gewesen wäre, um vom Eingang bis zur Kasse zu gelangen. Die Kassenautomaten aber waren so winzig, daß die Verkäuferinnen mit Stecknadeln tippen mußten. Jedes der armen Geschöpfe besaß an seinen Händen nur noch einen Finger, und so mußten sie beidhändig tippen, da sie die Nadeln nicht mit einer Hand halten konnten, was natürlich dreimal so lange dauerte. Die Einkaufswaggons stauten sich vor den Kassen auf über fünf Kilometer …« Seetha knetet verlegen ihre Bluse. »Ich sagte ja, es sei ein alberner Traum«, meint sie schließlich, als ich nicht sofort auf ihre Erzählung reagiere.
»Es ist grotesk, aber keinesfalls albern«, entgegne ich. »Ich hatte gehofft, Ihr Traum wäre eine Erinnerung, die uns womöglich ein wenig Aufschluß über unsere Lage geben kann. Sagen Sie, was ist das letzte reale Erlebnis, an das Sie sich erinnern können?«
»Ich habe gelesen«, antwortet Seetha nach kurzem Überlegen. »Einen Artikel im American Scientist über die rätselhafte Zunahme von spontanen Selbstverbrennungen menschlicher Föten im Mutterleib …«
Ich sehe die Frau an. »Warum lesen Sie so etwas?« frage ich. »Sind Sie schwanger?«
Seetha fährt sich mit der Hand über ihren Bauch, als sei sie fähig, es durch die Berührung herauszufinden. »Das – hoffe ich nicht«, gesteht sie. »Ich
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