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Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes

Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes

Titel: Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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hervorzog. »Disziplin. Ich muß mich beherrschen lernen.« Sie stopfte die Blättchen wieder ins Gebetbuch, nahm Handschuhe und Handtasche, verneigte sich zum Allerheiligsten hin und ließ die Tasche fallen, um sie aber diesmal im Glanz der Märtyrerin wieder aufzuheben. Dann eilte sie durchs Mittelschiff zum Südausgang, wo der Küster bereits mit dem Schlüssel in der Hand wartete, um sie hinauszulassen. Im Gehen blickte sie noch einmal zum Hochaltar zurück. Unerhellt und einsam stand er da, und seine hohen Kerzen wirkten im Zwielicht der Apsis wie undeutliche Gespenster. Das Ganze sah so streng und erhaben aus, fand sie plötzlich.
    »Gute Nacht, Mr. Stanniforth«, sagte sie rasch.
    »Gute Nacht, Miss Climpson, gute Nacht.«
    Sie war froh, aus dem Schatten des Kirchenportals in das
    grünlich schimmernde Licht des Juniabends hinauszutreten. Sie hatte sich bedroht gefühlt. War es der Gedanke an den strengen Täufer mit seinem Aufruf zur Buße? Das Gebet um die Gnade, die Wahrheit zu sprechen und dem Bösen kühn zu trotzen? Miss Climpson nahm sich vor, jetzt schnell nach Hause zu gehen und dort noch einmal Brief und Evangelium zu lesen – sie waren so sonderbar zart und tröstlich für das Fest eines so harten und kompromißlosen Heiligen. Und dabei, dachte sie, kann ich auch gleich die Blätter wieder ordnen.
    Nach den lieblichen Düften des Heimwegs kam ihr das Vorderzimmer in Mrs. Budges Obergeschoß richtig muffig vor. Miss Climpson riß das Fenster auf und nahm davor Platz, um Ordnung in ihre frommen Habseligkeiten zu bringen. Das Kärtchen vom letzten Abendmahl gehörte zwischen die Weihegebete; die Verkündigung von Fra Angelico war aus der Messe für den 25. März herausgerutscht und fand sich beim Sonntag nach Trinitatis wieder; das Herz Jesu mit dem französischen Text gehörte zu Fronleichnam; das …
    »Mein Gott!« sagte Miss Climpson. »Das muß ich in der Kirche mit aufgelesen haben.«
    Auf jeden Fall trug das kleine Blatt Papier nicht ihre Handschrift. Jemand muß es also verloren haben. Es war nur natürlich, einen Blick darauf zu werfen, um zu sehen, ob es vielleicht von Wichtigkeit war.
    Miss Climpson war eine von denen, die immer sagen: »Ich gehöre nicht zu denen, die anderer Leute Post lesen.« Das ist für alle eine deutliche Warnung, daß sie zu ebendieser Sorte gehören. Dabei sagen sie nicht einmal die Unwahrheit; es ist der reine Selbstbetrug. Die Vorsehung hat sie lediglich wie die Klapperschlangen mit einer Warnrassel ausgestattet. Wer nach dieser Warnung immer noch dumm genug ist, seine Korrespondenz in ihrer Reichweite liegenzulassen, ist eben selbst schuld.
    Miss Climpson warf einen raschen Blick auf das Blatt.
    In den Anleitungen zur Gewissenserforschung, wie sie an Rechtgläubige manchmal ausgegeben werden, ist oft ein sehr unkluges Absätzchen enthalten, das für die unschuldige Weltfremdheit seiner Verfasser Bände spricht. Da bekommt man zum Beispiel den Rat, zur Vorbereitung auf die Beichte seine Missetaten in einer Liste zusammenzufassen, damit einem nicht die eine oder andere kleine Schlechtigkeit durch die Lappen geht. Natürlich heißt es, man solle nicht die Namen anderer Leute daraufschreiben, den Zettel weder seinen Freunden zeigen noch irgendwo herumliegen lassen. Aber solche Mißgeschicke passieren nun einmal – und dann könnte dieses Verzeichnis der Sünden das Gegenteil dessen bewirken, was die Kirche im Sinn hat, wenn sie den Gläubigen bittet, dem Priester seine Sünden ins Ohr zu flüstern, und vom Priester verlangt, sie im selben Augenblick zu vergessen, da er den Beichtenden losspricht – als wären sie nie ausgesprochen worden.
    Jedenfalls war kürzlich jemand von den auf diesem Blatt Papier verzeichneten Sünden reingewaschen worden – wahrscheinlich letzten Samstag – und dann war der Zettel unbemerkt zwischen Kniekissen und Beichtstuhl geflattert und dort den Augen der Reinemachefrau entgangen. Da lag er nun, dieser Bericht, der für Gottes Ohr allein bestimmt gewesen war – hier lag er offen auf Mrs. Budges rundem Mahagonitisch vor den Augen eines sterblichen Mitmenschen.
    Um Miss Climpson nicht unrecht zu tun: Sicherlich hätte sie den Zettel sofort ungelesen vernichtet, wenn ein bestimmter Satz ihr nicht ins Auge gefallen wäre:
    »Was ich für M. W. gelogen habe.«
    Im selben Augenblick erkannte sie, daß dies Vera Findlaters Handschrift war, und es »kam über sie wie ein Blitz« – wie sie hinterher erklärte –, was diese Worte eigentlich

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