Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes

Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes

Titel: Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
bedeuteten.
    Eine geschlagene halbe Stunde saß Miss Climpson für sich allein und kämpfte mit ihrem Gewissen. Ihre angeborene Neugier sagte: »Lies.« Ihre religiöse Erziehung sagte: »Du darfst nicht lesen.« Ihr Pflichtgefühl gegenüber ihrem Auftraggeber Wimsey befahl: »Überzeuge dich.« Ihr Gefühl für Anstand sagte: »Laß das bleiben.« Und eine schrecklich ungehaltene Stimme grollte finster: »Es geht um Mord. Willst du zur Komplizin eines Mörders werden?« Sie kam sich vor wie Lancelot Gobbo zwischen Gewissen und Versucher – aber welche Stimme gehörte dem Versucher und welche dem Gewissen?
    »Die Wahrheit zu sprechen und dem Bösen kühn zu trotzen.« Mord.
    Hier bot sich nun eine echte Möglichkeit.
    Aber war es eine Möglichkeit? Vielleicht hatte sie mehr in den Satz hineingelesen, als er enthielt.
    War es denn in diesem Falle nicht – fast – ihre Pflicht, weiterzulesen und ihre Gedanken von diesem furchtbaren Verdacht zu reinigen?
    Wie gern wäre sie zu Mr. Tredgold gegangen und hätte ihn um Rat gefragt. Wahrscheinlich würde er ihr antworten, sie solle den Zettel sogleich verbrennen und mit Gebet und Fasten den Argwohn aus ihrem Herzen vertreiben.
    Sie stand auf und machte sich auf die Suche nach der Zündholzschachtel. Besser wär’s, das Ding so schnell wie möglich loszuwerden.
    Aber was hatte sie da eigentlich vor? – Wollte sie wirklich den Schlüssel zur Aufdeckung eines Mordes vernichten?
    Sooft ihr dieses Wort in den Sinn kam, brannte es sich in Großbuchstaben und dick unterstrichen in ihr Gehirn ein. MORD – wie auf einem polizeilichen Fahndungsaufruf.
    Jetzt kam ihr eine Idee. Parker war doch Polizist – und wahrscheinlich wußte er mit dem heiligen Beichtgeheimnis nicht viel anzufangen. Er sah so protestantisch aus – oder womöglich hielt er von Religion so oder so nichts. Jedenfalls würde er seine beruflichen Pflichten über alles andere stellen. Warum nicht ihm den Zettel schicken, ohne ihn selbst zu lesen, und ihm nur kurz erklären, wie sie darangekommen war? Dann lag die Verantwortung bei ihm.
    Bei näherer Betrachtung jedoch erkannte Miss Climpsons angeborene Ehrlichkeit diesen Plan als jesuitisch. Die Vertraulichkeit wurde durch diese Art Veröffentlichung ebenso gebrochen, als hätte sie das Ding selbst gelesen – vielleicht sogar noch mehr. Und sogleich hob an dieser Stelle auch der alte Adam den Kopf und meinte, wenn diesen Beichtzettel überhaupt jemand zu lesen bekomme, könne sie auch gleich ihre eigene wohlbegründete Neugier befriedigen. Außerdem – wenn sie sich nun ganz und gar irrte? Die »Lügen« mußten schließlich nicht das mindeste mit Mary Whittakers Alibi zu tun haben. In diesem Falle würde sie leichtfertig die Geheimnisse eines Mitmenschen preisgeben, und das noch ohne Sinn. Wenn sie sich also zur Herausgabe entschloß, mußte sie den Zettel zuerst selbst lesen – das war sie allen Beteiligten schuldig.
    Vielleicht – wenn sie nur noch einen kurzen Blick auf das eine oder andere Wort warf – würde sie sehen, daß es mit MORD nichts zu tun hatte, und dann konnte sie den Zettel vernichten und vergessen. Wenn sie ihn aber ungelesen vernichtete, wußte sie, daß sie ihn nie vergessen würde, nicht bis an ihr Lebensende. Sie würde auf immer diesen fürchterlichen Verdacht mit sich herumschleppen. Immer würde sie denken müssen, daß Mary Whittaker – vielleicht – eine Mörderin war. Immer, wenn sie in diese harten blauen Augen blickte, würde sie sich fragen, welchen Ausdruck sie wohl haben würden, wenn die Seele dahinter MORD plante. Natürlich war der Verdacht schon vorher dagewesen, gesät von Wimsey, aber jetzt war es ihr eigener.
    Der Verdacht kristallisierte sich – wurde für sie zur Wirklichkeit.
    »Was mache ich nur?«
    Sie warf erneut einen raschen, verschämten Blick auf den Zettel. Diesmal las sie das Wort »London«.
    Im ersten Augenblick stockte Miss Climpson der Atem wie jemandem, der unter eine kalte Dusche tritt.
    »Nun gut«, sagte Miss Climpson, »wenn es Sünde ist, so will ich sie begehen, und möge sie mir vergeben werden.«
    Mit rotglühenden Wangen, als ob sie dranginge, jemanden nackt auszuziehen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Blatt Papier.
    Die Notizen waren kurz und zweideutig. Ein Mann wie Parker hätte vielleicht nicht viel damit anzufangen gewußt, aber für eine in dieser Art frommer Kurzschrift geübte Miss Climpson war die Geschichte so klar wie gedruckt.
    »Eifersucht« – dieses Wort war

Weitere Kostenlose Bücher