Lord Tedric 01 - Lord Tedric
Weiterfahrt.
VI
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VORZEITIGE BEERDIGUNG
Das Floß, das auf dem Fluß Bolla zwischen den Städten Crux und Novale als Fähre verkehrt, ist an diesem Abend gut besetzt. Unter den Menschen an Deck sitzt ein alter Bettler, in grobe Lumpen gekleidet, der auf seinen Knien ein längliches, in schmutziges Papier gehülltes Paket trägt. Er schläft anscheinend, sein Kinn ruht auf der Brust. Doch in Wirklichkeit lauscht er den Worten eines fliegenden Händlers in seiner Nähe, der seinem Begleiter gerade ein seltsames Erlebnis erzählt.
Der Händler spricht: »Zuerst glaubte ich, es sei ein Gasthaus oder eine Taverne, und da ich sehr müde war, beschloß ich, dort um eine Unterkunft für die Nacht nachzufragen. Das Haus erstrahlte in einem seltsamen Glanz, jedes Fenster war hell erleuchtet, also klopfte ich an die Türe. Eine junge Frau öffnete mir. Sie war schlank, sehr schön und kaum bekleidet, weshalb ich zuerst annahm, in ein Freudenhaus geraten zu sein. Ich fragte nach einem Zimmer, die Frau lächelte scheu und trat beiseite, als ob sie mich eintreten lassen wollte.«
»Und bist du hineingegangen?«, fragte der Freund begierig.
»Ich wollte gerade eintreten«, fährt der Händler fort, »als mir etwas Ungewöhnliches auffiel. Dieses Ding hier glühte.« Er deutet auf einen silbernen Talisman, den er um seinen Hals trägt. »Mein Großvater hat ihn mir gegeben zum Schutz gegen alles Teufelswerk. Noch nie vorher habe ich erlebt, daß er so stark glühte.«
»Und dann bist du weggelaufen?«
»Nein, nicht deswegen. Etwas anderes war es, das mich die Flucht ergreifen ließ. Ich hatte die Türschwelle schon halb überschritten und konnte in den nächsten Raum hineinschauen, wo etwa noch ein Dutzend Frauen saßen, eine schöner als die andere. Doch dann hörte ich plötzlich von oben den Schrei eines Mannes. Noch nie in meinem ganzen Leben vorher habe ich so etwas Schreckliches gehört. Es war der Schrei eines Mannes, der in der Hölle gefangen sitzt und unsägliche Qualen erleidet, ein endlos währender Schrei. Da habe ich Reißaus genommen.«
»Und diese Frauen haben nicht versucht, dich zurückzuhalten?«
»Natürlich haben sie es versucht. Sie versuchten, mir mit ihren Händen, die sich in Klauen verwandelt hatten, die Kleider vom Leib zu reißen. Heute noch kann ich dir die Narben an meinem Körper zeigen. Der Talisman schien sie zu erschrecken, ich glaube, er hat mir das Leben gerettet. Doch nicht die Frauen fürchtete ich am meisten, sondern das Wesen, das oben, im ersten Stock, auf der Lauer lag – ein dunkles, schmieriges, ekliges Etwas, das ich nicht erkennen konnte. Die ganze Zeit habe ich seine Anwesenheit gespürt.«
»Entschuldigen Sie bitte!« Der Bettler, plötzlich hellwach, beugt sich zu ihnen hinüber. »Könnten Sie mir bitte genau erklären, wo ich dieses Haus finden kann?«
»Sie? Sie wollen dort hin?« Der Händler bricht in lautes Lachen aus. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Weil ich vorhabe, dort hinzugehen«, sagte Lord Tedric von den Marschen, »um das dunkle, schmierige, eklige Etwas, das Sie beschrieben haben, zu töten.«
»Sie wissen, was es ist?«
»Ja, es ist Sarpedium, der schwarze Magier des Todes.«
Steif lehnte sich Jania in ihren Sitz zurück. Sie hob die Hände, legte sie an ihre Wangen und zeichnete mit ihren Fingerspitzen langsam die Falten ihres Gesichtes nach – die einzige Gefühlsäußerung, die sie sich erlaubte.
Tedric deutete auf das Armaturenbrett. »Wir sollten versuchen, das Funkgerät zu benutzen.«
»Unter einem solchen Berg von Gestein?« Mit einer Hand wies sie auf die Geröllwand vor ihnen.
»Wir brauchen Hilfe, wenn wir hier jemals herauskommen wollen.«
»Ich glaube, du hast recht.« Sie zuckte die Schultern. »In Ordnung, ich werde es versuchen.«
»Dann los!«
Hinter ihnen schienen Nolan und Keller vor Schreck kein Wort herausbringen zu können. Irgendwie war Tedric froh darüber, denn er und Jania hatten genug Mühe, ihre eigenen Befürchtungen zu unterdrücken. Jania konzentrierte sich auf die Kontrollarmaturen, bediente Schalter und drehte an Knöpfen. Ein greller Pfeifton durchbrach die Stille um sie herum, dann ertönte das Knattern von statischen Entladungen. Schließlich hörten sie ganz schwach, kaum vernehmbar, eine Stimme. Rasch drehte Jania den Lautstärkeregler voll auf.
»Hier spricht Jania, kann mich jemand hören? Antwortet bitte, wenn ihr mich hört. Dies ist ein
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