Loretta Chase
ihr. Erst bückte er sich und schaute unter den
Tisch. Dann ging er einmal darum herum, schaute zur Decke hinauf und
schließlich aus dem Fenster.
»Die Pläne
sind hier, Mr. Carsington«, sagte sie und klopfte auf die Mappe.
»Ich suche
nach der Falle«, ließ er sie wissen. »Erst ereilt mich Mrs. Steepleton,
dann Mrs. Badgeley, schließlich gar Lady Lithby. Was mich wohl als Nächstes
erwartet? Eine Falltür vielleicht, die sich unter meinen Füßen auftut und mich
in eine Schlangengrube voll tödlicher Vipern stürzen lässt?«
»Es gibt
keine Vipern auf Lithby Hall«, beschied sie kühl.
Zweifelnd
hob er die Brauen und begann aufzuzählen: »Vipera plapperloticus, vípera
zetermordicus, vípera renovier-ruinicus ...«
Kurz
zuckten ihre Lippen. Doch sehr zu seiner Enttäuschung gewann der
friedfertig-dümmliche Ausdruck die Oberhand.
»Hier sehen
Sie eine Ansicht von Lithby Hall Ende des siebzehnten Jahrhunderts«,
begann sie in nüchternem Ton zu dozieren. »Und so sah das Haus anderthalb
Jahrhunderte später aus. So hat meine Stiefmutter es vorgefunden.«
Darius kam
näher. »Ist das etwa ein Wassergraben?«, fragte er und zog sich eine der
Zeichnungen heran.
Sie nickte.
»Heute ist er kaum noch zu erkennen. Großvater hat einen Teil des Grabens zu
einem Zierteich umbauen lassen. Wo heute die Küche und die Gesindewohnungen
sind, befand sich früher eine Orangerie. Hier kann man sehr schön sehen, wie
das Areal neu gestaltet wurde. Meine Stiefmutter hat noch die Veranda
anbauen lassen. Sehen Sie?« Sie zeigte auf den
Plan. »Aber die größten Veränderungen wurden im Haus vorgenommen. Früher war es
das ganze Jahr über düster, kalt und beklemmend – zumindest kam es mir als Kind
so vor. Sie hat uns Licht und Wärme gebracht.«
Er sah sie
an und war abermals überrascht, wie sanft ihre Stimme wurde, wenn sie von ihrer
Stiefmutter sprach.
»Sie mögen
Ihre Stiefmutter«, stellte er fest.
»Ja, das
tue ich«, sagte sie. »Ich weiß, dass das nicht normal ist. Sie ist meine
Stiefmutter. Ich müsste sie wohl hassen und ihr das Leben zur Hölle
machen.« »Es ist zumindest ungewöhnlich«, fand er. »Frauen neigen
bisweilen dazu, ihr Territorium weitaus aggressiver zu verteidigen als
Männer.«
»Was Sie
nicht sagen.« Sie schaute ihn an, und er hatte das untrügliche Gefühl,
einer genauen Musterung unterzogen zu werden. »Haben Sie auch Frauen zu ihrem
Forschungsgegenstand gemacht, Mr. Carsington? Seltsam, dass ich noch nichts
davon gehört habe. Papa zitiert Sie nämlich andauernd. Ich habe Sie mir als
einen weisen Gelehrten vorgestellt.« Sie sah beiseite und runzelte die
Stirn. »Mit schütterem, weißem Haar und gebeugtem Rücken. Wer Sie das erste Mal
bei einem Vortrag erlebt, dürfte einen veritablen Schock bekommen.«
Oh, sie war
gut. Mit Leichtigkeit hatte sie von sich abgelenkt und das Gespräch wieder auf
ihn gebracht.
Aber kein
Wunder, dass sie derlei taktische Finessen beherrschte – in ihrem Alter! Und er
sollte in seinem Alter eigentlich längst gelernt haben, wie man dennoch auf den
Punkt kam. Ȇber Familienbeziehungen habe ich noch keinen Vortrag
gehalten«, sagte er. »Doch erforscht habe ich sie.« Zur Genüge, hätte
er noch hinzufügen können. »Ihr Fall ist äußerst spannend. Sie waren kein Kind
mehr, als Ihr Vater wieder geheiratet hat. Sie mussten einer Frau das Feld
überlassen, die gerade mal neun Jahre älter war als Sie. Besagte Frau hat Ihrem
Vater bislang vier Söhne geboren, von denen der Älteste einmal Titel und
Anwesen erben wird. Und doch scheinen Sie weder eifersüchtig noch verbittert zu
sein.«
»Sie ist
aber wie eine große Schwester für mich«, sagte Lady
Charlotte.
»Man kann
auch auf seine Geschwister eifersüchtig sein«, erwiderte er.
»Kann
man«, sagte sie. »Mit vier großen Brüdern sprechen Sie wahrscheinlich aus
Erfahrung.«
Verdammt.
Sie war wirklich gut.
»Immerhin
muss ich sie nicht jeden Tag sehen«, sagte er. »Jungen werden zur Schule
geschickt. Wir leben nicht auf Jahre hinaus unter einem Dach. Frauen hingegen
schon. Weshalb sie meist alles daransetzen, bald einen eigenen Hausstand zu
gründen.«
»Dies ist
mein Zuhause«, beschied sie.
Sie holte
einige Entwürfe aus der Mappe und schien das Thema nicht weiter erörtern zu
wollen.
Vielleicht
war er ihr ja zu nah getreten. Er war es nicht gewohnt, mit jungen Damen aus
gutem Hause zu plaudern – und es ließ ihm keine Ruhe, noch immer nicht zu
wissen, warum sie in ihrem Alter
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