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Loretta Chase

Loretta Chase

Titel: Loretta Chase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eine verführerisch unnahbare Lady
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in der Hand. Seine Hände waren weder hart und schwielig noch waren
sie weich und zart. Vielmehr waren sie auffallend groß, die Finger lang, nicht
dick und fleischig, aber doch kräftig und zupackend. Sie hatte keine Zweifel
daran, dass ein Hieb dieser Hände nicht gerade sanft ausfallen mochte ...
wohingegen ihre Berührung ausgesprochen sanft sein konnte, so er es wollte.
    Erschreckend
sanft. Sie erinnerte sich an die sanfte Berührung seiner Finger ... Rasch hob
sie den Blick wieder zu seinem Gesicht. Im dämmerigen Licht der Stallungen war
es schwer, seine Miene zu deuten.
    »Dann
möchte ich Ihnen danken«, sagte sie. »Es war sehr aufmerksam von Ihnen,
darauf zu achten und sich wegen eines Jungen, den Sie doch überhaupt nicht
kennen, so viel Mühe zu machen.«
    »Jetzt
kenne ich ihn«, sagte Mr. Carsington. »Ein Blick in seine Augen genügte
mir, um zu wissen, dass der Junge es nicht leicht hat.«
    Ihr stockte
der Atem, doch nur so kurz, dass sie hoffte, er würde es nicht bemerkt haben.
»Seine Augen?«, fragte sie betont gleichmütig.
    »Da Ihnen
schwindelte, ist es Ihnen gewiss nicht aufgefallen«, erwiderte er. »Aber
der Junge hat ein blaues Auge und ein braunes. Ungebildete Menschen neigen
bezüglich solcher Launen der Natur leicht zum Aberglauben. Sie sehen darin das
Werk des Teufels oder glauben, dass es Unglück bringt. Dies und einiges mehr
macht Pip das Leben schwerer, als es sein sollte.«
    »Die Tylers
finden, dass er zu gebildet sei«, sagte sie.
    »Seine
Schulbildung ist das eine«, sagte Mr. Carsington. »Das andere ist seine
ungeklärte Herkunft.«
    Der letzte
Satz traf sie mit solcher Wucht, als habe man ihrem Herzen einen heftigen
Schlag versetzt. Doch äußerlich wahrte sie die Contenance, gab sich gefasst und
kühl.
    »Die Leute
können Kindern gegenüber, die anders sind als sie ... die keine Eltern haben
... sehr ungerecht sein«, sagte sie zögernd, doch ohne mit der Wimper zu
zucken. »Als ob ... als wäre es die Schuld des Kindes.«
    Er neigte
den Kopf und schaute sie scharf an. »Sie weinen doch nicht etwa? Ach, was für
ein weichherziges Geschöpf Sie bisweilen sind.«
    »Ich weine
nicht«, stellte sie brüsk klar. »Und selbst wenn, warum nicht? Sie haben
doch selber ein weiches Herz. Eben erst habe ich Sie dem Jungen versprechen
hören, dass er niemals zurück ins Armenhaus müsse.«
    Diesmal
würde er sich nicht wieder von ihr ablenken lassen. Er beugte sich vor und betrachtete
sie mit seinem aufmerksamen Raubvogelblick. »Etwas stimmt nicht«, stellte
er fest. »Sie sind ja völlig außer sich. Seit Sie über diesen Eimer gestolpert
sind, benehmen Sie sich sonderbar.«
    Vor sich
sah sie das Gesicht des Jungen, gestochen scharf und lebensecht.
    Und da
stieg die alte, vertraute Trauer in ihr auf, plötzlich und überwältigend, erhob
sich wie eine riesige Welle vor ihr. Charlotte sah sie auf sich zukommen. Die
Welle drohte sie zu verschlingen, wie sie es vor zehn Jahren getan hatte.
    Tiefe,
ausweglose Verzweiflung.
    Nein. Nicht
noch einmal. Wenn sie abermals in dieser Finsternis versänke, würde sie niemals
mehr herausfinden.
    Sie hob die
Hände, umfasste Mr. Carsingtons Kopf und zog ihn an sich wie eine Ertrinkende
das rettende Seil.
    Ihr Mund
fand seinen, und sie küsste ihn, als drohe sie wirklich zu sterben und nur er
könne sie am Leben erhalten.
    Jenen
kurzen, glücklichen Augenblick, den er ihr gestern geschenkt hatte und der ihr
wie eine kleine Ewigkeit erschienen war.
    Er schloss
seine Arme um sie, als verstünde er alles. Er hielt sie fest, als hinge ihr
Leben daran, als würde er die Gefahr spüren.
    Lass mich
vergessen.
    Als
verstünde er alles, vertiefte er den Kuss, und aller Kummer schmolz dahin. Ihn
zu schmecken war wie honigsüßer Likör, kühl und frisch auf der Zunge, bis er
ihre Sinne wärmte. Glückseligkeit.
    So soll es
sein.
    Sie glitt
mit den Händen seine Arme hinab, spürte, wie sich unter seinem Rock die Muskeln
bei jeder Berührung spannten. Sie breitete die Hände über seine stattliche
Brust und nahm sie, einen Moment nur, ganz für sich ein. Wie eine Blinde
erkundete sie ihn mit ihren Händen, und die kalte Scham, die sie kurz überkam,
wich der Wärme dieser Berührungen und dem wohligen Gefühl der Geborgenheit: Sie
gehörte zu ihm, er zu ihr. Scham und Trauer schwanden dahin. Ihre Vergangenheit
schwand dahin und mit ihr die Einsamkeit der Jahre danach.
    Nur der
Augenblick blieb. Nur der Augenblick zählte.
    Und dieser
Augenblick war sein Mund,

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