Loretta Chase
ihm vertrauen
könne. Dabei war sie bereits viel zu unvorsichtig geworden. Sie hatte seine
Neugier geweckt, hatte ihn Fragen stellen lassen, die sie lieber unbeantwortet
ließ.
Kurzum:
Ginge sie nach Beechwood, lauerten an allen und Ecken und Enden Schwierigkeiten
auf sie.
Aber zu
Hause sah es nicht anders aus. Alle waren nur noch mit den Vorbereitungen für
die kommende Gesellschaft befasst.
Bliebe sie
zu Hause, würde sie den ganzen Tag lang die Namen der geladenen Gentlemen hören
müssen. Wo die Herren schlafen würden. Wo sie bei Tisch säßen. Welche
Aktivitäten wessen Vorzüge am besten zur Geltung brächten.
Manchmal
dachte sie bei sich, dass es vielleicht das Einfachste wäre, kurzerhand einen
Zettel mit einem der Namen aus einem Hut zu ziehen und es hinter sich zu
bringen.
Dann wieder
sagte sie sich, dass sie wie gehabt vorgehen und jeden potenziellen Verehrer
diskret und zielgenau einer Freundin oder Cousine zuführen würde. Aber wie
sollte sie ihre üblichen Manöver bewerkstelligen, wenn Papa sie alle so
aufmerksam beobachten würde, als wäre das Ganze eines seiner
landwirtschaftlichen Experimente?
Letztlich
sollte ihr Vater ihr die Entscheidung abnehmen. Charlotte ging nach Beechwood –
hauptsächlich deshalb, um der liebevoll besorgten Miene und der gespannten
Vorfreude ihres Vaters zu entkommen.
Nun stand
sie in der Gemäldegalerie, die sich in der Beletage fast über die gesamte Länge
von Beechwood House erstreckte,
und gab den Dienstboten Anweisungen, die nach der Renovierung von Decken, Böden
und Wänden sämtliche Gemälde wieder aufhängen mussten. Vieler Reparaturen hatte
es nicht bedurft, war die Galerie doch seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr
genutzt und schon lange vor Lady Margarets Tod verschlossen worden.
Das konnte
Charlotte nicht verstehen. Beechwood war zwar etwas heruntergekommen und
bedurfte mancher Modernisierung, aber es war ein herrliches
Anwesen, und die Gemäldegalerie zählte gewiss zu den schönsten seiner Räume.
Weder zu groß und prächtig noch zu klein und beengt. Durch das dicke Glas der
Fensterscheiben gebrochen, erschienen die Ahnenbildnisse in einem milden,
weichen Licht.
Manchen
gereichte dies sehr zum Vorteil, waren sie doch im strengen Stil vergangener
Jahrhunderte gemalt worden. Die Porträts aus der Generation ihrer Großeltern
wirkten lebensechter. Das Bildnis einer umwerfend schönen jungen Dame in reich
geschmücktem Seidenkleid mit tiefer Taille und gebauschten Röcken zeigte zu
Charlottes Überraschung Lady Margaret um die Zeit ihrer Hochzeit.
Das Gemälde
hing ganz am Ende der Galerie.
Als
Charlotte sich ab wandte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie
trat an das geöffnete Fenster.
Im
einstigen Ziergarten trottete Daisy mit einem dicken Stock in der Schnauze
hinter einem Jungen her. Der Junge trug eine Kappe und hüpfte und sprang im
Kreis durch den verwilderten Garten. Manchmal drehte er sich um und
vergewisserte sich, dass der Hund ihm auch folgte. Auf einmal fing er an zu
lachen. Er blieb stehen, bückte sich und packte das eine Ende des Stocks. Daisy
schüttelte wild den Kopf hin und her – wobei wahrscheinlich viel Speichel flog
– und versuchte ihn abzuschütteln. Der Junge hielt wacker fest, doch als die
Bulldogge ihn mal hierhin, mal dorthin umherwarf – oder er sich umherwerfen
ließ – fiel ihm seine Kappe vom Kopf, und sein Haar schien hell in der Sonne
auf.
Charlottes
Herz machte einen Sprung. Fast hätte sie aufgeschrien. Doch das durfte sie
nicht. Natürlich nicht. In der Galerie wimmelte es von Dienstboten.
Sie faltete
die Hände fest vor dem Bauch und schaute zu, wie Pip mit Lizzies Hund spielte.
Schließlich
ließ er den Stock los und fiel lachend ins Gras. Daisy ließ den Stock los,
stürzte sich auf ihn und begann, ihm das Gesicht zu lecken. Noch immer lachend
stieß er sie zurück, worauf sie seine Hände leckte. Er setzte sich auf, und
rieb ihr – unbeeindruckt von dem furchteinflößenden Gebiss – die faltigen
Lefzen und kraulte sie hinter den Ohren.
Es war
schier nicht zu ertragen.
Es
schmerzte sie in tiefster Seele. Am liebsten wäre sie hinausgerannt, hätte sein
Gesicht umfasst und gefragt: »Bist du es wirklich? Bist du mein wunderbarer,
verlorener Junge?«
An den
Schmerz sollte sie sich besser gewöhnen, sagte sie sich. Sie hatte kein Recht,
den Jungen damit zu behelligen. Selbst wenn er ihr Sohn wäre, so war er es doch
nicht. Als sie das Kind weggegeben hatte, hatte sie alle
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