Loretta Chase
Ansprüche aufgegeben.
Sie sollte sich abwenden und nicht länger an ihn denken. Sich ihm zu nähern,
Fragen zu stellen, würde nur Kummer bringen – ganz gleich, welche Antworten sie
bekäme. Selbst wenn er ihr Junge war, könnte sie ihn doch nicht für sich haben,
ohne an alte Geheimnisse zu rühren, die allen, die sie liebte, viel Leid
bescheren würden.
Sie
versuchte es, doch sie schaffte es nicht.
Nachdem sie
den Dienstboten letzte Anweisungen gegeben und einem von ihnen die Aufsicht
übertragen hatte, verließ sie die Galerie. Sie konnte nicht anders. Immerhin
schaffte sie es, nicht zu rennen.
Als sie
gerade versuchte, nicht die Treppe hinunterzustürmen, sondern gemessen zu
schreiten, hörte sie über sich Lizzies Stimme.
»Bist du in
der Galerie fertig, Charlotte?«
Charlotte
holte tief Luft, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und schaute mit gewohnt
liebenswürdigem Lächeln zu ihrer Stiefmutter hinauf. »Viel war dort nicht zu
tun«, sagte sie.
»Dann möchtest
du nun gewiss auch nach Hause gehen und dich den Vorbereitungen für unsere
Gäste widmen.«
»Aber das
eilt doch nicht. Du solltest dir kurz einen Moment Zeit nehmen, Lizzie, um dir
die Galerie anzuschauen. Nachdem wir etwas Luft und Licht hereingelassen und
den Schmutz und Staub der letzten Jahrzehnte beseitigt haben, ist es wirklich
schön dort. Ich wollte nur noch eine kleine Runde im Garten drehen.«
»Ach je,
der Garten«, seufzte Lady Lithby. »Ich wünschte, ich hätte noch Zeit
...« »Ich bin mir sicher, Mr. Carsington wünscht sich das genaue
Gegenteil«, sagte Charlotte.
»Da
könntest du allerdings recht haben.« Lachend drehte Lizzie sich um und
ging in Richtung der Galerie. Dabei sagte sie noch etwas, doch Charlotte
wartete nicht ab, sondern lief sogar schneller als zuvor die Treppe hinab.
Kurz darauf
trat sie durch die Flügeltüren des Wintergartens hinaus auf die Terrasse.
Verwildertes Gebüsch nahm ihr den Blick auf den Bereich, wo der Junge vorhin
gespielt hatte. Sie rannte nicht, doch lief sie sehr schnell den überwucherten
Weg entlang. Dann hörte sie jungenhaftes Lachen und ein kurzes, verspieltes
Bellen von Daisy.
Sie trat
zwischen den Büschen hervor.
Daisy hatte
sich den Stock wieder geschnappt und ärgerte den Jungen damit. Sie lief zu ihm,
schüttelte den Kopf und sprang zurück, wenn der Junge nach dem Stock greifen
wollte.
Charlotte
war gekommen, weil sie Fragen stellen wollte, doch nun schlug ihr das Herz so
heftig, dass sie kein Wort herausbrachte.
Es kam ihr
wie eine halbe Ewigkeit vor, bis der Junge sie bemerkte. Wie angewurzelt hielt
er inne, wollte sich die Kappe abnehmen, fand sie nicht auf seinem Kopf und
schaute sich suchend um.
Obwohl sie
alles wie durch einen seltsamen Schleier wahrnahm, sah Charlotte sie nur einen
Schritt von sich auf dem Boden liegen. Sie bückte sich und hob sie auf.
Nachdenklich drehte sie sie in den Händen.
Dann
schaute sie den Jungen an.
Bist du es
wirklich? Bist du mein Junge?
Gerade
setzte sie an, etwas zu sagen ...
»Das ist
der falsche Hut«, erklang hinter ihr eine tiefe Stimme. »Ich glaube, dies
ist, was Sie
suchen.«
Sie drehte
sich um. Mr. Carsington hielt ihren Hut in der Hand.
»Ich hörte,
wie Lady Lithby Ihnen nachrief, Sie sollten nicht ohne Hut in die Sonne gehen«,
erklärte er. »Sie hat Ihnen ein Dienstmädchen hinterhergeschickt, doch da ich
ohnehin in diese Richtung wollte, entschied ich in meiner unerschöpflichen
Güte, Ihnen den Hut persönlich zu bringen.« Sein Blick fiel auf die Kappe,
die sie noch immer in der Hand hielt. »Dann könnten Sie Pip nun auch seine
Kappe zurückgeben.«
Ja, das
sollte sie. Sie war dabei, einen Fehler zu machen. Einen großen Fehler. Und
doch konnte sie den Blick nicht von der Kappe nehmen. Ein paar helle Haare
hingen daran. Sie strich über das grobe Tuch wie sie über sein Haar streichen
würde, wenn sie nur dürfte ... wenn er ihr Sohn wäre ... wenn sich ungeschehen
machen ließe, was sie getan hatte.
Wenn, wenn,
wenn.
»Ich
glaube, Lady Charlotte hat Gefallen an deiner Kappe gefunden, Pip«, sagte
Mr. Carsington. »Vielleicht erwägt sie ja, sie in der kommenden Saison in Mode
zu bringen.«
Sie schaute
auf und erwiderte den Blick des Jungen, dessen seltsam schöne Augen sie nun
verwundert und mit leisem Argwohn betrachteten.
Sie bemühte
sich zu lächeln. »Ich war ganz in Gedanken versunken«, sagte sie und
reichte ihm die Kappe. Vorsichtig kam er näher. Genauso vorsichtig nahm er ihr
sie ab, wobei
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