Loretta Chase
musste.
Als sie zu
Bett ging, rechnete sie kaum damit, Schlaf zu finden, doch die Ereignisse des
Tages hatten sie erschöpft. Kaum hatte sie den Kopf aufs Kissen gelegt, war sie
auch schon eingeschlafen und wachte erst wieder auf, als das graue Licht des
Morgens das Zimmer erfüllte und Bailey mit einer Tasse heißer Schokolade an
ihrem Bett stand, deren Duft Olivia verführerisch in die Nase stieg.
Dienstag, 18. Oktober
im großen Saal von Gorewood Castle
Die Harpyien waren noch nicht
aufgestanden und würden es wohl vor der Mittagsstunde
auch nicht tun, wie es, so vermutete Lisle, ihre Gewohnheit war – falls nicht
eine Naturgewalt sie aus den Federn scheuchte.
Obwohl er
innerlich kaum zur Ruhe gekommen war, hatte er sein Frühstück daher in Ruhe und
Frieden genießen können.
Was ihm
erst bewusst gemacht hatte, wie unfriedlich die vorhergegangenen gewesen waren.
Er lauschte
den leisen Schritten der Dienstboten, die unauffällig und beflissen ihrem
Tagwerk nachgingen, dem Heulen des Windes, der durch die kaputten Fenster und
das morsche Mauerwerk pfiff, dem Feuer, das – immerhin – anheimelnd im Kamin
knisterte ...
Die
Gegebenheiten auf Gorewood Castle waren keineswegs ideal, zudem befand er sich
himmelweit von jenem Ort entfernt, an dem er nun gern gewesen wäre, und den
anstehenden Reparaturarbeiten sah er nicht gerade mit Begeisterung entgegen. Aber
zumindest herrschte Ruhe. Und Frieden. Und Ordnung. Welch eine Ironie,
dass Olivia all das bewirkt hatte.
Gerade als
er seinen von Nichols höchstpersönlich bereiteten Kaffee ausgetrunken hatte,
kam sie hereingerauscht.
Lisle stand
auf.
Sie blieb
neben ihm stehen und beäugte die winzige Tasse, die vor ihm auf dem Tisch
stand. »Ist das Mokka ?«
Er nickte
stumm. Das Rascheln ihrer Kleider hallte ihm in den Ohren. Ihr Duft, dieser
feine, blumige Hauch, stieg ihm in die Nase. Oder war es eher würzig als
blumig? Auf jeden Fall sehr fein. Kein Duft aus der Flasche. Aller
Wahrscheinlichkeit nach getrocknete Blumen oder Kräuter, mit denen sie ihre
Kleider aufbewahrte.
»Ich trinke
ihn jeden Morgen«, meinte er. »So bin ich es gewohnt, wenngleich ich keine
Religion daraus mache und auch etwas anderes trinken würde. Aber für Nichols
ist es eine Frage der Ehre, 'seinen Gentleman' zu umsorgen. Nicht im Traum
fiele es ihm ein, mich etwas anderes trinken zu lassen, weshalb er immer, wohin
es uns auch verschlägt, einen Vorrat Mokkabohnen bei sich trägt. Und jeden
Morgen bereitet er mir daraus einen Kaffee. Möchtest du auch welchen?«
»Allerdings,
sehr gern.« Sie ging weiter und setzte sich. »Urgroßmama trinkt oft Kaffee,
aber ihre Kammerdienerin wacht sehr eifersüchtig über ihr Wissen und weigert
sich, Bailey zu zeigen, wie man welchen bereitet.«
»Ich werde
Nichols bitten, sie darin zu unterweisen«, sagte Lisle und setzte sich wieder.
»Nichols ist über derlei Kleinlichkeit erhaben.« Und hätte gewiss nichts
dagegen, eine hübsche junge Frau in allerlei mehr zu unterweisen. Er würde ihr
alles zeigen, was sie wissen wollte, und dann noch ein paar Dinge, von denen
sie nicht einmal ahnte, dass sie sie wissen wollte.
Obwohl
Lisle nicht nach ihm geläutet hatte, erschien Nichols wie gerufen. »Sir?«
»Kaffee für Miss Carsington«, sagte Lisle.
»Gewiss,
Sir.«
»Und wenn
Miss Bailey einen Moment Zeit hat, bringen Sie ihr bitte bei, wie man ihn
zubereitet.«
»Gewiss,
Sir.« Seiner Stimme war nichts anzumerken, doch Lisle entging nicht, dass
Nichols’ Augen hoffnungsfroh aufblitzten.
Auch Olivia
musste es bemerkt haben. Denn kaum war der Kammerdiener hinter der Tür zum
Küchenkorridor verschwunden, meinte sie: »Er soll bloß nicht glauben, dass er
mein Mädchen verführen könnte.«
»Ich bin so
sehr mit meiner eigenen moralischen Unzulänglichkeit beschäftigt«, raunte er
ihr über den Tisch zu, »dass du kaum von mir erwarten kannst, mich noch um
anderer Leute Moral zu kümmern. Und ganz gewiss werde ich ihm nicht sagen, was
er glauben soll. Er ist ein Mann .«
»Ich wollte
dich nur gewarnt haben«, erwiderte sie. »Wenn er es bei Bailey versucht, kann
ich für nichts garantieren. Sie hat keine gute Meinung vom anderen Geschlecht.«
»Nichols
kann schon selbst auf sich aufpassen«, sagte Lisle. »Wie ich bereits gestern
meinte, ist er hart im Nehmen. Einmal hat ihn ein Wüstensturm in die Luft
geschleudert und mitten in einem Beduinenlager wieder abgesetzt. Ohne mit der
Wimper zu zucken, hat Nichols geholfen, das Lager vom Sand
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