Loretta Chase
sich so die
Distanz zum Küchenkorridor und der lauschenden Dienerschaft. Mit einem
wundersamen Gespür für den rechten Augenblick – das vermutlich daher rührte,
Lisle seit Jahren zu Diensten zu sein –, brachte Nichols Herrick just in dem
Augenblick herein, als Olivia Lisle die letzten Briochekrümel von der Weste
geklopft hatte. Lisle waren sie natürlich nicht aufgefallen, oder es kümmerte
ihn nicht, aber Nichols wäre es nicht entgangen, und es hätte ihn sehr
bekümmert. Olivia war sich sicher, dass er vor Scham im Boden versunken wäre,
hätte sein Herr sich so vor einem künftigen Bedienten gezeigt.
Herrick sah
zumindest schon mal aus wie ein Butler. Er war von imposanter Statur, ebenso
hochgewachsen wie Aillier, aber von weitaus schlankerer Gestalt. Sein dunkles
Haar war ordentlich frisiert, und der Blick seiner schwarzen Augen war wach und
aufmerksam. Er strahlte die Ruhe und Gelassenheit eines Mannes aus, der wusste,
was er wollte. Er erinnerte Olivia an Dudley, Urgroßmamas untadeligen, geradezu
perfekten Butler.
Noch mehr
erinnerte er sie allerdings an Nichols – weniger äußerlich, denn der
Unterschied war offensichtlich, doch hatte er dieselbe unaufdringliche Art.
Obwohl er
Schotte war, sprach er makelloses Englisch mit einem nur schwachen Akzent.
»Sie waren
zuletzt auf Glaxton Castle«, meinte Lisle, nachdem er die beiden
Empfehlungsschreiben gelesen hatte. »Weshalb wollen Sie denn eine so
vorteilhafte Position aufgeben und sich in dieser Bruchbude hier verdingen?«
»Ehrgeiz,
Euer Lordschaft«, sagte Herrick. »Mr Melvin war Oberbutler auf Glaxton Castle,
ich war nur der Unterbutler. Wir waren nicht auf Augenhöhe. Da es recht
unwahrscheinlich ist, dass sich an dieser Situation in naher Zukunft etwas
ändern oder er in den Ruhestand treten würde, beschloss ich, mein Glück
anderswo zu suchen, und habe vor zwei Wochen gekündigt. Beinahe hätte ich ein
Angebot aus Edinburgh angenommen, da erfuhr ich, dass hier eine Stelle frei
sei. Meine gestrige Unterredung
mit Mr Mains ließ mich zu dem Schluss kommen, dass mir die Position auf
Gorewood Castle eher zusagte.«
Lisle
bemühte sich gar nicht, sein Erstaunen zu verbergen. Mit vager Geste deutete er
um sich. »Diese Ruine sagt Ihnen eher zu?«
»Allerdings,
Euer Lordschaft. Ich betrachte es als eine Herausforderung.«
»Das sehen
wir genauso«, meinte Lisle seufzend. »Leider.«
Olivia fand
es an der Zeit einzugreifen. »Meiner Erfahrung nach«, sagte sie, »bevorzugen
die meisten Bedienten eine bequeme Anstellung. Herausforderungen sind nicht
jedermanns Sache.«
»Das mag
gewiss so sein, Miss Carsington«, sagte Herrick. »Doch mir erscheint eine
solche Arbeit ausgesprochen langweilig und unbefriedigend.«
»Keine
Sorge«, meinte Lisle. »Hier wird Ihnen nicht langweilig werden. Vielleicht
haben Sie noch nicht davon gehört, dass unser letzter Butler unter mysteriösen
Umständen verschwunden ist.«
»Es gibt
nichts, was man in dieser Gegend nicht erfahren würde, Euer Lordschaft«, sagte
er. »Selbst in Edinburgh ist die Dienerschaft über alles auf dem Laufenden, was
sich im Umkreis von zwanzig Meilen zuträgt. Das gilt auch für Gorewood.«
»Und es
beunruhigt Sie gar nicht, dass unser letzter Butler spurlos verschwunden ist?«,
hakte Olivia nach.
»Würden
Euer Lordschaft und Miss Carsington mir gestatten, ganz offen zu sprechen?«,
fragte Herrick.
»Nur zu«,
sagte Lisle.
»Ihr
letzter Butler kam aus London «, sagte Herrick nachsichtig – oder gar
mitleidig? »Ich nicht. Meine Familie lebt schon seit Generationen hier. Uns
vertreibt man nicht so schnell. Eigentlich gar nicht. Wir harren aus.«
Olivia
schaute Lisle vielsagend an.
»Gewiss
möchten Euer Lordschaft und Miss Carsington die Sache unter vier Augen besprechen«,
sagte Herrick. »Ich werde draußen warten.«
Er
entfernte sich lautlos.
Olivia und
Lisle sahen ihm nach.
»Ist das
Nichols’ großer Bruder?«, fragte sie leise.
»Die beiden
müssen einer eigenen Spezies angehören«, meinte er. »Und wenn er auch so ein
Schürzenjäger wie Nichols ist ... Aber man kann nicht alles haben. Immerhin ist
er Schotte, wie du es wolltest, und scheint der Gegend verbunden. Seine
Referenzen sind tadellos. Er macht einen guten Eindruck. Ruhig. Diskret. Und er
spricht verständliches Englisch. Also, willst du ihn haben oder nicht?«
»Es ist
deine Burg«, sagte sie.
»Aber nicht
meine Zuständigkeit«, erwiderte er. »Er scheint in Ordnung, aber du wolltest
dich um die
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